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Schule versagt

Schule versagt

Titel: Schule versagt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Faltin , Daniel Faltin
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wahres Potenzial an Klugheit, Menschlichkeit und Nachdenklichkeit. Thorsten war sehr ungebildet, als er bei uns aufgenommen wurde. Er war bescheiden und in der Anfangszeit ängstlich. Er brauchte viel positive Verstärkung, um sein Potenzial entfalten zu können. Bei ihm gab es keine Widerstände, aber enormen Nachholbedarf. Wenn ich mir vergegenwärtigte, wie vorzüglich er sich am Ende im Hinblick auf seine Kommunikationsfähigkeit entwickelt hatte, war das einfach phänomenal. Aus seinen unbeholfenen Sätzen waren klare, verständliche, begründeteArgumentationen geworden. Ich sah meine Schüler vor mir und dachte daran, dass ich in dieser Zeit tatsächlich als Autorität für sie überflüssig geworden war. Sie würden ihren Weg gehen. Die Entspannung, die von dieser Atmosphäre ausging, war auch jetzt noch für mich spürbar. Einmal noch musste ich diesen Geist, die Lebendigkeit, das zumindest teilweise Überwinden von Schule in der Schule in mich aufnehmen, um darüber schreiben zu können. Dann war der Moment vorüber. War ich in unser Klassenzimmer gekommen, um nostalgischen Gefühlen nachzuhängen? Was ich in der Erinnerung suchte, waren Antworten. Wie war es möglich, dass Schüler, die wie alle anderen bei uns angekommen waren, sich in dieser Weise entwickelt hatten, dass das positive, kreative, vitale Element, das sie auszeichnete, so nachhaltig wirkte?
    Die Antworten, die ich aus meiner Erfahrung und meinen Erkenntnissen in der Schule geben kann, habe ich in sieben Thesen zusammengefasst. Die Thesen spiegeln auch meine eigene Entwicklung im Prozess der Zusammenarbeit mit meinen Schülern wider. Sie sind aus meiner Sicht die Grundlage für eine nachhaltige Veränderung der Lehrer-Schüler-Beziehung und damit einer der Schlüssel zur Heilung des Bildungssystems und seines Outputs als Ganzem. Damals, als ich diese Erfahrung machte, handelte ich in erster Linie intuitiv. Allerdings hatte ich meine Zielvorstellung, die vollkommene Autonomie meiner Schüler, immer im Kopf. Der Weg dorthin stellt sich mir heute so dar, dass sie von Beginn an darin geschult wurden, innerlich unabhängig zu werden, ihre Individualität zu erkennen und zu entwickeln und gleichzeitig interaktionsfähig zu denken und zu handeln. Das war unser heimlicher Lehrplan. Wenn ich diesen Prozess um der Klarheit und Verständlichkeit willen in einzelnen Schritten darzustellen versuche, muss vorausgesetzt sein, dass er offen, dynamisch, flexibel und interdependent, lebendig abgelaufen ist, dass er ständige Aufmerksamkeit erforderte und nicht schematisch bleiben konnte.

VIII.   Sieben Thesen für eine nachhaltige Veränderung der Lehrer-Schüler-Beziehung
    1.   Bei sich selbst beginnen!
    Ich bin sicher, dass dieser Gedanke bei mir am Anfang stand. Es war kein bewusst durchdachter und gefasster Entschluss. Mir war eher intuitiv klar, dass ich nicht jungen Menschen etwas abverlangen konnte, was ich nicht selbst verkörperte und vorlebte. Wer bin ich? Wo stehe ich? Wohin gehe ich? Drei simpel klingende Fragen, die über ein ganzes Leben entscheiden können. Und über die Lebenswege anderer. Die Frage, die in der Bildungsdiskussion allenthalben im Raum steht als eine Voraussetzung für die Wahl des Lehrerberufs und wie eine kleine Sensation gehandhabt wird: »Mag ich Schüler?« (oder ähnlich klingende Formulierungen) genügt nicht. Die drei Fragen oben implizieren eine Menge mehr: »Bin ich geeignet für einen Beruf, der Sisyphosarbeit ebenso einschließt wie eine hohe Frustrationsschwelle, die Fähigkeit zu Distanz und Empathie gleichzeitig   – und kann ich Vorbild sein, so sehr, dass ich eine positive Resonanz bekomme auf mein Verhalten?« Und wenn das alles zutrifft: »Halte ich diese Motivation durch, vielleicht über ein ganzes Berufsleben hinweg?« »Kann ich ein Künstler in meinem Beruf werden und gleichzeitig einer, der die Kunst des Lebens versteht und verkörpert in allem, was er tut?« Im heimlichen Lehrplan strahlt man aus, was diese Fragen implizieren. Diese Wirkung kann man nicht verhindern. Es nützt nichts, sich zu belügen oder Entscheidungen zu rationalisieren. Wenn Herr M., der Mathelehrer meines Sohnes, vorgab, seine Schüler fördern zu wollen, so sprachen sein Körper und seine Psyche eine andere Sprache. Mimik und Gestik, die gesamte Körpersprache, Stimme, Verhalten, verbale Äußerungen sagten implizit: »Ich hasse euch!« Die Atmosphäre, die er um sich verbreitete, war die des Sadisten, der Freude am Leiden

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