Schule versagt
selbstständige Arbeiten war selbstverständlich geworden. Wir drangen in methodische und inhaltliche Bereiche vor, die mit anderen Klassen zu erreichen unmöglich gewesen war. Wir hatten ein eigenes Systemdes Vertrauens und der Glaubwürdigkeit geschaffen, das keine Kontrolle benötigte. Das war ein wirkliches Inside-Out, was ich in dieser Zeit erlebt habe. Das Einzige, was ich bedauere, ist, dass es wohl tatsächlich immer einige wenige gibt, denen man nicht helfen kann. Diejenigen, für die man als Lehrer die meiste Zeit opfert, sind oft die, an denen man scheitert. Es gibt Dinge, die außerhalb des eigenen Einflussbereiches liegen. Das in Gelassenheit, nicht in Gleichgültigkeit, zu akzeptieren, bewahrt vor Resignation.
Nach der Durchsicht meiner Notizen aus dem ersten und zweiten Jahr, die die Fortschritte dokumentierten, die wir miteinander gemacht hatten, die Schwierigkeiten und die Misserfolge, hatte ich das Gefühl, noch einmal in die Schule, in unseren Raum, gehen zu müssen. Es waren immer noch Ferien, das Gebäude menschenleer. Wieder betrat ich den von uns renovierten Raum und stellte mir meine Klasse darin vor. So wie sie um mich herum an den in U-Form gruppierten Tischen saß, waren einige Schüler nicht mehr dabei. Es war die Abschlussklasse, die ich sah. Ich saß ganz allein in dem leeren Raum und spürte die Atmosphäre von damals. Das, was ich als aktives, lebendiges Interesse an der Entwicklung der jungen Menschen beschrieb, empfand ich hier in diesem Raum sofort wieder. Ich sah in Björns Gesicht, der nach gutem Start als stiller zurückhaltender Junge eine Phase der Verweigerung und des Widerspruchs durchgemacht hatte. Später war er Klassensprecher geworden und zeigte sich in hohem Maße kooperationsbereit und verantwortungsbewusst. Justin war von Anfang an ehrgeizig gewesen und in der Arbeit über sich hinausgewachsen. Er erwartete zu Beginn zu viel von sich selbst und ließ seine Frustration alle anderen spüren. Später fand er eine bessere Balance zwischen Anspruch und Wirklichkeit und definierte sich nicht mehr so ausschließlich über seine Leistung. Jochen, der mir zu Beginn sehr skeptisch gegenüberstand, hatte sich in beiden Fächern eine Eins verdient. Er war klug und fleißig, und als er den anfangs heftigen Widerstand überwunden hatte, offen für alles neu zu Lernende. Kai wollte unbedingt nach Asien, lernte nebenbei chinesisch und setzte alles daran, sich mit einem guten Examen in der Tasche auf den Weg zu machen. Rechts sah ich Klaus sitzen, der mit einer leichten Behinderung zu uns kam und trotz seiner Legasthenie durch seine mündliche Leistung brillierte. Die stilleren Schülerwaren Sven, Paul und Sascha. Sie hörten aufmerksam und konzentriert zu. Ich lernte von ihnen, dass nicht jede Eigeninitiative sich verbal äußert. Ihre Fortschritte in exakten Ausarbeitungen belegten das sehr deutlich. Unser Primus war Gaston, der, ruhig, freundlich und sachlich wie er war, allgemeine Beliebtheit genoss. Ich weiß noch, wie ich einmal den Mund vor Staunen nicht mehr zu bekam, als ich Gaston sagte, dass ich in der Schule nie so gute Noten gehabt hatte wie er und er mir antwortete: »Das war auch bei mir längst nicht immer so. Ich war lange Zeit auf dem Gymnasium so schlecht, dass ich es verlassen musste. Ich bin erst hier so geworden.« Er war bescheiden und zurückhaltend und sehr klug. Auf dem Gymnasium war er gescheitert. Das erinnerte mich an meinen Sohn, der zwar nicht gescheitert war, aber überhaupt keine Förderung erfahren hatte.
Zwei sehr stille Schüler, Ken und Hilmar, bestanden das Examen nicht. Ken war über lange Zeiträume krank gewesen und konnte den versäumten Stoff nicht mehr rechtzeitig nachholen. Er bestand das Examen ein Jahr später. Hilmar hatte zu wenig gearbeitet. Er war ruhig, nett und sehr umsorgt von seiner Mutter. Hilmar war es gewohnt, dass seine Mutter ihm alles abnahm. Wenn wir ein Gespräch miteinander hatten, bezog sie sich in die Identität ihres Sohnes immer mit ein. Als klar war, dass seine Leistungen nicht ausreichen würden, um sich zum Examen anmelden zu können, sagte sie: »Da haben wir ja wohl keine Chance«, und: »Da werden wir jetzt wohl einen Ausbildungsplatz annehmen müssen.« Dirk hingegen hatte sich enorm entwickelt. In voll-pubertärem Zustand bei uns angekommen, war er jetzt erwachsen geworden. Bei ihm hatte ich starke Widerstände gegen die Schule als solche zu überwinden, und als das peu à peu gelungen war, zeigte sich sein
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