Schule versagt
verbleiben so viele Darstellungen im deskriptiven Bereich. Das Auswendiglernen von Fachwissen ersetzt nur allzu häufig die Fähigkeit, Probleme selbstständig zu analysieren und zu lösen. Das Dilemma von Performanz und Kompetenz ist vorrangig ein Problem der Lehrer und erst nachrangig eines der Schüler.
Auch die Teamarbeit praktizierten wir kontinuierlich. Hier zeigte sich besonders, dass die Entscheidung, das Konzept offenzuhalten, richtig gewesen war. Meine Schüler wollten z. B. häufig, wenn es um die Analyse literarischer oder politischer Texte ging, gemeinsam analysieren und interpretieren. Nach den Gründen gefragt, meinten sie, es sei einfach effektiver, wenn wir im Plenum, also in unserem größten Team, arbeiteten. Die Ergebnisse seien valider, profunder und nachhaltiger erarbeitet. Da das die einhellige Meinung war, beließ ich es dabei und zwang ihnen keine Arbeit in kleineren Teams auf. Wenn sie diese Form der Erarbeitung für richtig hielten, sagten sie es und hatten keine Scheu davor. Das war immer dann der Fall, wenn sie gruppenweise unterschiedliche Aspekte eines Textes oder eines politischen Problems behandelten. Dann präsentierten sie ihre Ergebnisse und wir besprachen sie gemeinsam.
Den Grad unserer gemeinsamen Fortschritte konnte ich auch daran ablesen, wie meine Schüler mit meinen Fehlern und Schwächen umgingen. Wir kannten uns gut. Ihr Wissen um mich machte meine Schüler so sicher, dass sie mir Schwächen nicht ankreideten, sondern belächelten. Ich weiß noch, wie ich einmal, als sie aus irgendeinem Grund zu Beginn des Unterrichts unruhig waren und keine rechte Ruhe einkehren wollte, laut sagte: »Jetzt seien Sie doch endlich mal ruhig!« Ich sagte das nicht nur laut, sondern auch heftig. Es war untypisch, für sie, weil sie in der Regel nicht laut waren, und für mich, weil ich sonst nicht so heftig reagierte. Sie schauten mich nicht einmal erschrocken an, was für mich sehr beruhigend war. Sie nahmen es mit einem Lächeln einfach hinund verziehen mir sofort. Unser Vertrauenskonto war gut gefüllt. Die kleine Abhebung, die ich gemacht hatte, fiel nicht ins Gewicht.
Meine Prämisse im Umgang mit den Schülern war, dass Kontrolle durch Eigenverantwortung überflüssig werden sollte. Ich handelte und behandelte sie dementsprechend. Sie waren schnell sehr selbstständig. Sie spürten und ich sagte es ihnen auch immer wieder, dass sie dazu in der Lage seien. Ich wollte mich als Autorität überflüssig machen. Wenn das der Fall war, hatten wir unser gemeinsames Ziel erreicht. Es wird Rückschläge geben bei dem einen oder anderen. Dann muss Sisyphos den Stein wieder aufnehmen und nach oben tragen, wohl ahnend und manchmal sogar wissend, dass er niemals oben ankommen und liegen bleiben wird. Es gab einige Problemschüler in der Klasse, die aus den unterschiedlichsten Gründen Widerstände gegen das Erwachsen- und Selbstständigwerden und gegen das Übernehmen der Verantwortung für ihr Leben aufbauten. Jakob beispielsweise fehlte wochenlang ohne sich zu entschuldigen, tauchte irgendwann wieder auf und hatte auch dann keine Entschuldigung für uns parat. Er sei mit seiner Band auf Tournee gewesen. Sein Vater hatte kurz vorher die Familie verlassen, die Mutter saß mit fünf Kindern, das kleinste von ihnen ein Baby, allein da. Sie war vollkommen hilflos ihrem ältesten Sohn gegenüber. Offenbar hatte niemand dem Jungen vorgelebt, was Verantwortung bedeutet, und auch die Sozialisation in unserer Klasse, die so schnell gute Fortschritte machte, war an ihm vorbeigegangen. In einer Klassenkonferenz beschlossen wir, ihm eine zweite Chance zu geben. Er wurde angehört und ich sprach noch einige Male mit ihm allein. Das Grundproblem, neben der fehlenden Bereitschaft sich weiterzuentwickeln, war, dass er gar nicht an der Ausbildung teilnehmen wollte. Eigentlich sei er DJ und jeden Abend, oder doch zumindest am Wochenende, in der Disco. Seine Leistungen waren durch die langen Fehlzeiten sehr schlecht. Das Probehalbjahr würde er wahrscheinlich nicht bestehen. Das Problem lag bei ihm selbst. Solange er sich, so wie er war, immer wieder mitnehmen würde, würde er keine Ausbildung bestehen, egal welche. Er nahm es zur Kenntnis, wenn ich ihm das zu vermitteln versuchte, aber ich sah ihm deutlich an, dass es nicht bei ihm ankam. Jakob verließ die Schule und verabschiedete sich sehr aggressiv von mir.Er war das Opfer und wir, seine Lehrer, waren die Täter. Dieses Schema entlastete ihn und wälzte
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