Schule versagt
die Schuld für das eigene Verdrängen ab. Er war ein typisches Beispiel für das »ewige Opfer«, das sich von der Aufgabe, sich weiterzuentwickeln und Verantwortung zu übernehmen, durch dieses Verhaltensmuster befreit.
Auch in anderen Fällen scheiterten meine Bemühungen. Miroslav, ein Schüler mit Migrationshintergrund, hatte extreme Sprachprobleme. Er wiederholte die Klasse aus diesem Grund, schaffte die Versetzung mit schlechten Leistungen, wiederholte auch die 12. Klasse und wurde in der 13. nicht zum Examen zugelassen. Also versuchte er sich auch hier erneut und verbrachte schließlich statt der angesetzten drei ganze sechs Jahre bei uns. Sein Deutsch war auch nach dieser Zeit alles andere als gut. Wir hatten ihm zwischenzeitlich Sprachkurse zunächst ans Herz gelegt, schließlich verordnet. Es brachte nicht den erwarteten Erfolg. Und so kam es, dass dieser junge Mann, der bei mir die 11. Klasse verbracht hatte, mit einem sehr mäßig bestandenen Examen die Schule verließ, ohne Deutsch fließend zu beherrschen, und ich spreche hier nicht von akademischem Deutsch.
Ein anderer Fall war der eines sehr jungen Schülers, der im Alter von sechzehn Jahren von seinen Eltern verlassen wurde. Sie kehrten in ihre Heimat in einem südeuropäischen Land zurück, und er, der die Ausbildung beenden wollte, blieb allein in Deutschland. Moses war vollkommen überfordert; die Fehlzeiten häuften sich, und ich erinnere mich nicht mehr, wie viele Gespräche und Konferenzen wir miteinander hatten. Es waren zu viele. Im Laufe der Zeit baute er einen inneren Widerstand auf, der ständig wuchs. Als er die Klasse wiederholen musste und auch daran erneut scheiterte, projizierte er diesen Widerstand auch auf mich. Alle anderen waren schuld, nur er selbst nicht. Alle Angebote, die wir über Jahre hinweg gemacht hatten, alle Gespräche fruchteten nichts. Er blieb infantil. Seine Eltern ahnten vielleicht nicht einmal, was sie ihm angetan hatten. Für uns waren sie nicht erreichbar. Eine Tante kochte für ihn und damit endete in ihren Augen ihre Zuständigkeit. In diesem Fall waren wir machtlos. Wer einmal diese Ohnmacht gespürt hat, weiß, wovon ich rede.
Das vierte schwierige Problem war Uwe, dessen Eltern beide im Beruf sehr eingespannt und häufig unterwegs waren. Meistenswar er allein zu Haus. Unglücklicherweise gehörte er nicht zu denen, die das verkraften, weil sie selbstständig und unabhängig sind. Er hatte nie seine eigene Stärke gespürt, das war das Problem. Er wusste nicht, wozu er in der Lage war, wenn er all seine Kräfte und Talente entfalten würde. Er wusste nicht einmal, dass er sie hatte. Und er hatte Angst davor, selbstständig zu werden. Für all die Probleme, die er aus seiner Sicht wahrnahm, bevorzugte er Fremdlösungen. So fand er sich zu unbeweglich und zu dick, litt auch darunter, packte aber sein Problem nicht aktiv an, sondern sagte dazu: »Ich geh zur Bundeswehr. Da muss ich mich bewegen und dann nehme ich automatisch ab!« Für jedes seiner Probleme schob er die Lösungsverantwortung anderen zu. Mit Uwes Einverständnis schalteten wir seine Eltern ein. Nach zahllosen Versuchen, Gesprächen und Konferenzen wurde schließlich ein letzter Termin angesetzt. Es sollte endgültig entschieden werden, was aus ihm werden sollte. Zu diesem Termin erschien er nicht. Es war seine letzte Chance nach einem schier endlosen Hin und Her wegen Fehlzeiten und Schlechtleistungen das gesamte Schuljahr über. Die Mutter hatte wenige Tage zuvor versichert, ihr Sohn wolle die Ausbildung fortsetzen und auf jeden Fall den Termin wahrnehmen. Sie selbst sei unterwegs, ebenso wie ihr Mann, sie sei aber sicher, dass ihr Sohn nun, da er »genügend Druck« bekommen habe, erscheinen werde. Sie hatte öfter gesagt, ihr Sohn brauche Druck, um überhaupt irgendetwas zu tun. Sonst sitze er zu Hause, mache es sich gemütlich und keinerlei Gedanken über seine Zukunft. Auf meine Frage, warum Uwe in diesem Hedonismus verbleibe, obwohl er nicht mit sich zufrieden sei, hatte sie keine Antwort. Sie sei einfach zu sehr mit ihrer eigenen Ausbildung beschäftigt.
Die vier Problemfälle und andere kleinere nahmen zwei Drittel meiner Zeit als Klassenleiterin in Anspruch. In der 12. Klasse begannen wir die Früchte unserer Arbeit an uns selbst zu spüren. Im Unterricht herrschte mehr denn je eine heitere, gelassene Grundstimmung. Wir lachten viel und arbeiteten doch vollkommen konzentriert eineinhalb Stunden zusammen. Das
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