Schule versagt
Fitness war unser Bonus. Er hatte uns gern erzählt, wie er als Schüler von seinem Sportlehrer oft mit der Trillerpfeife geschlagen worden war – so unbegabt sei er im Sport gewesen. Es liegt nahe, an das Bild eines Mannes zu denken, der sich, um mit Covey zu sprechen, »seine Kraft borgen« muss. 4 Vereinfacht gesagt, hatte sich Herr M. von einem autoritären Charakter, seinem Sportlehrer, seine Stärke nehmen lassen und musste nun, um sich selber wieder aufwerten zu können, andere Menschen tyrannisieren. Herr M. hatte eine seiner Schülerinnen geheiratet, mit der er ein gemeinsames Kind hatte. Auf einem Schulfest lernte ich sie kennen. Sie gab niemals Widerworte, war sehr schüchtern und hatte fachlich kaum Ahnung – sie würde die Großartigkeit ihres Mannes niemals infrage stellen.Aber wenn man als Neuntklässler in einem Klassenraum um seine Zukunft fürchtet, ist man von solchen Erkenntnissen noch Jahre entfernt.
Es war immer das gleiche Spiel mit derselben Methode. Sollte es doch mal jemand wagen, nach Monaten der Demütigung aufzubegehren – zugegeben, das kam sehr selten vor –, dann spielte Herr M. immer dieselbe Karte. Jemand war nicht zufrieden mit seiner Note? Ungerecht behandelt etwa? Alles gar kein Problem. Herr M. schlüpfte in seine Papi-Rolle und bot völlig selbstlos an, man könne seine Note ganz einfach aufbessern, indem man an der Tafel vorrechnete – jetzt gleich, mit garantierter Notenvergabe hinterher. Dann würden alle sehen können, ob man tatsächlich besser war als die Note, die der großartige Herr M. in pädagogischer Unfehlbarkeit in sein Büchlein eingetragen hatte. Und die Aufgaben? Nun, die beziehen sich natürlich auf das gesamte Halbjahr, nicht etwa nur auf die letzte Übung. Ist doch klar, wer gut ist, muss alles können und ganz besonders unter verschärften Bedingungen. Und die Eltern? Sollte es vorkommen, dass Eltern um ein Gespräch mit ihm baten – und auch das kam selten genug vor –, spielte Herr M. seine Papi-Rolle mit besonderer Bravour. Er, der fachlich ausgebildete pädagogische Koordinator eines deutschen Gymnasiums, sorge sich um unser Wohlbefinden, wolle uns nur helfen, uns fördern, wo er nur könne. Doch die Schüler? Einfach nur chaotisch und undiszipliniert – schwierig, schwierig, sie wieder auf den rechten Weg zu führen. Das Fatale an Herrn M.’s »Performance« war, dass ihm die Mehrzahl der Eltern seine Tricksereien abkauften und einige sogar mit dem Gefühl nach Hause fuhren, dass das eigene Kind bei ihm in sehr guten Händen sei. Ich bin bis heute sehr dankbar, dass meine Eltern niemals auch nur ansatzweise so naiv waren.
Als sich das Schuljahr dem Ende zuneigte, hofften wir alle, nein, vielmehr beteten wir, dass das Schicksal es gut mit uns meinte und Herr M. von einem anderen Lehrer ersetzt werden würde. Lehrerwechsel stehen fast jedes Jahr auf der Tagesordnung, also warum nicht auch bei Herrn M.? Nach den großen Ferien trafen wir uns in einem neuen Klassenzimmer wieder. Ein gutes Zeichen. Doch unsere Hoffnung wurde herb enttäuscht. Herrn M. hatte es so gut bei uns gefallen, dass er uns in Mathematik nochein weiteres Jahr unterrichten sollte. Beim Direktor persönlich habe er sich dafür eingesetzt, strahlte er. Unsere Begeisterung war spürbar nicht vorhanden. Herr M. freute sich umso mehr, als er uns dann auch noch die zweite »gute Neuigkeit« verkündete. Er hatte nicht nur durchgesetzt, dass er uns in Mathe behielt, sondern dieses Jahr auch zusätzlich noch in Chemie unterrichtete. Der Terror hatte sich in einem Atemzug verdoppelt, für uns brach eine Welt zusammen. Die Tafelschikanen, die »Unterrichtsgespräche«, die unangekündigten Tests und garantiert umfangreichen Hausaufgaben, alles würde nun auch noch auf den Chemieunterricht ausgeweitet werden. Es war ein Schock, der uns durch die Glieder fuhr. Einige reagierten mit panischer Angst, andere aggressiv, aber am Ende würde es nichts nützen.
Wie konnte das sein? Wie konnte es sein, dass keiner von der Lehrerschaft bemerkte, dass Herr M. psychopathische Züge hatte und trotzdem noch unterrichtete? Wir waren schließlich nicht die einzige Klasse, in der er sein Unwesen trieb. Wurden wir von anderen Lehrern gefragt, machten wir uns und, soweit ich das mitbekam, auch andere Klassen, Luft über die Zustände mit Herrn M. Doch geändert hat sich nicht das Geringste. Herr M. unterrichtete uns in Mathe und Chemie für ein ganzes weiteres Jahr, mit dem
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