Schule versagt
kleinen Bonus, dass ab dem zweiten Halbjahr seine Fächer im Stundenplan bei uns direkt aufeinanderfolgten. Selbst die Ultima Ratio, sich dem Terror durch Krankschreibung zu entziehen, wurde somit sehr riskant. Zu viel Material wurde im Unterricht verarbeitet, so dass ein Nachholen bzw. Nacharbeiten neben allen anderen Fächern sehr schwierig war. Anwesenheit war ironischerweise die bessere Wahl, zumal Herr M. genau wusste, wer wann und wo gefehlt hatte und wie viel Zeit seitdem vergangen war. Ein Tag genügte schon und war Legitimation genug für ihn, einen Fernbleiber an der Tafel seiner Prozedur zu unterziehen – schließlich hatte der Schüler doch eben genau diesen einen Tag Zeit gehabt, um alles nachzuholen, musste es also können und wissen. »Wie, du willst nicht? Sechs.« Völlig legitim. Außerdem: Wer in Mathe nicht zu brechen war, hatte eventuell in Chemie weniger Talent. Dazu noch eine demenzverdächtige Geschichtslehrerin, ein oder zwei Alkoholgefährdete in Deutsch und Erdkunde und die Zukunft eines Schülers kann plötzlich alles andere als verheißungsvollaussehen – und dies ohne einen einzigen Schritt von ihm selbst.
Herr M. besaß uneingeschränkte Notengewalt über uns. Er musste und durfte seine Schüler täglich bewerten, er war erster Pädagogischer Koordinator an einem deutschen Gymnasium, war für die Erziehung seiner Schüler zuständig, sollte ihnen als Lehrer und speziell dafür ausgebildeter Pädagoge als Vorbild dienen und führte sie stattdessen gezielt an der Tafel vor, um sie psychisch zu terrorisieren. Wie kann man sich als Schüler wehren? Gar nicht. Es gibt keine Möglichkeit. Als Schüler ist man Sadisten, Nekrophilen, wie Erich Fromm zum Leben unfähige Menschen nennt, und völlig überforderten Lehrern machtlos ausgeliefert. Wie beweist man Psychoterror? Und selbst wenn Schüler und Eltern das Unmögliche erreicht und nach jahrelangem Rechtsstreit einem Herrn M. dieses Vergehen nachgewiesen haben, ist die Konsequenz für ihn lächerlich – ganz abgesehen von dem potenziellen Vergeltungsschlag via Notenvergabe. Qua Beamtenstatus kann er kaum entlassen werden und wenn er tatsächlich mit der »Höchststrafe« belegt werden sollte, die ihn ereilen kann, wird er zwangsversetzt – im schlimmsten Fall. Das ist alles. Er »unterrichtet« dann an einer anderen Schule – zum vollen Gehalt wohlgemerkt.
Das oben Beschriebene beruht auf meinen Aufzeichnungen von damals. Es wirkt aus der Rückschau betrachtet skurril, in welchen Kategorien wir damals dachten, was man selber in der Zeit für wichtig und richtig erachtet hatte. Hätte ich damals nur gewusst, was ich heute weiß. Seitdem ist eine ganze Weile vergangen – zehn Jahre und mehr sogar –, dennoch sind die Systematik, die Sachverhalte und Konsequenzen so aktuell wie nie – leider. Im Internet tippe ich in einer Suchmaschine die Worte »Selbstmord« und »Mobbing« ein und finde unzählige Foren, in denen die Opfer der vielen in Deutschland unterrichtenden Herrn M.s um Hilfe schreien. Und vielleicht ist Ihr Kind auch dabei – bei den psychisch Vergewaltigten.
Selbstverständlich gibt es nicht nur Attacken von Lehrern auf Schüler. Auch Schüler haben eine ebenso hervorragende Begabung, sich gegenseitig zu terrorisieren. Der Mathematikunterricht dreht sich um Mathematik. Der Deutschunterricht dreht sich umDeutsch, der Musikunterricht um Musik. Dies ist nur ein kleiner Teil der Wahrheit, und er klammert den entscheidenden, maßgeblichen Teil des Lehr- und Lernerfolgs, die Interaktion der Schüler untereinander und mit dem Lehrer vor, während und nach dem Unterricht, völlig aus. Die persönliche emotionale Beziehung der Schüler untereinander und die persönliche emotionale Beziehung der Schüler zu dem jeweiligen Lehrer: Diese beiden psychologischen Faktoren sind die wesentlichen und entscheidenden Komponenten für gelungenen oder eben misslungenen Unterricht. Das hat nichts mit dem Lehrstoff zu tun.
Das wirkliche Potenzial jedes einzelnen Schülers wird verschwendet in dem täglichen Krieg um Anerkennung. Was das bedeutet, erfuhr ich mit dem Wechsel ins Gymnasium. Ich hatte einfach nur Pech. Es war reiner Zufall, dass ich ausgerechnet in diese Klasse kam. Von der 7. bis zu 11. Klasse hatte sie den schlimmsten Ruf an der gesamten Schule. Sie galt als Schwemmbecken für aggressive Mobber. »Ihr hasst euch alle gegenseitig, macht euch das Leben zur Hölle«, sagten mir später Schüler aus
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