Schule versagt
den Parallelklassen. Sie wollten für kein Geld der Welt in unsere Klasse und das, obwohl auch in ihren Klassen fleißig gemobbt wurde. Ich konnte nur zustimmen, denn ich sah und ertrug ihn zum Teil auch selber – den Schülerterror. Je nach Schuljahr hatten wir eine konstante Zahl von drei Schülern, welche akut selbstmordgefährdet waren – allein in unserer Klasse. Herrn M. und seine Brüder im Geiste vor der Nase und den Schülerterror im Nacken, das zehrte an den Kräften eines jeden. Schnell wurde aus »Lasst uns was lernen!« ein »Ist doch eh alles sinnlos!«.
Die Mobber, Peiniger und Hetzer haben, wie Herr M., ein unglaubliches Gespür dafür entwickelt, wen von den durchschnittlich dreißig Schülern pro Klasse man ganz besonders gut »plattmachen« kann. Körperlich überlegene Schüler schieden von vornherein aus, höhere Jahrgänge sowie Leute mit älteren Geschwistern auch – die Vergeltungsgefahr war zu hoch. Schließlich ist der Sinn des Mobbens, die eigene Unzulänglichkeit dadurch zu kaschieren bzw. aufzuwerten, dass vermeintlich Schwächere so lange bearbeitet werden, bis sie sich noch minderwertiger vorkommen. Gemobbt wurden ausschließlich diejenigen, die sich vermeintlich nicht wehren konnten oder wollten. Ein Anlass ließsich immer finden. Wenn es nicht die Frisur oder der Pulli waren, dann waren es Schmuck, Herkunftsland, lange oder kurze Nasen. Auch der Sport eignete sich bestens zum Aufmischen. Im Prinzip war der Auslöser egal, Hauptsache, es gab etwas, worüber sich die Mobbing-Minderheit der Klasse aufregen konnte, um die Mehrheit zu dominieren.
Sporadisch kam es dazu, dass die Vorkommnisse thematisiert wurden. Immer dann, wenn es bereits fünf Minuten nach zwölf war und wohl aus Sicht der Lehrer nun wirklich nicht mehr vermeidbar, weil ihre Augen-zu-Taktik versagt hatte. Ich werde den Tag in der 11. Klasse nie vergessen, als ein Mädchen – sie war eine von denen, welche den Pegel der Selbstmordgefährdeten einen Zähler nach oben setzten – nicht zum Unterricht erschienen war. Ihre Freundinnen machten sich Sorgen, sie war auch telefonisch nicht zu erreichen. Die Hetzer schluckten, übertünchten ihre Angst mit Scherzen, denn sie wussten, was geschehen konnte, wenn das Mädchen tatsächlich Selbstmord begangen hatte. Doch die Reaktion des Klassenlehrers war für mich wesentlich erstaunlicher. Er hielt uns die übliche fünfminütige Ansprache darüber, warum es so wichtig sei, eine Klassengemeinschaft zu werden, den und die andere/n zu respektieren, und produzierte all die anderen Worthülsen, die in Situationen wie diesen immer für die reuig dreinschauenden Täter produziert werden. Für mich fühlte es sich so an, als wollte die Lehrerschaft diese unangenehme Sache schnell vom Tisch haben. Sie waren froh darüber, auf »einsichtige« Schüler zu treffen. Die ganze Geschichte konnte so schlimm nicht sein. Die Standpauke endete damit, dass unser Klassenleiter sagte, er und auch einige andere Kollegen zeigten sich bereits etwas besorgt über die Klassensituation im Allgemeinen und einige Schüler im Speziellen. Eine herausragende Erkenntnis nach fast vier Jahren Unterricht, unzähligen Hilfeschreien und Warnhinweisen.
Mit der üblichen konsequenzlosen Verabreichung des Habt-euch-bitte-lieb! gestand der Lehrer allerdings auch ein, dass er und einige seiner Kollegen Bescheid wussten. Er wusste von dem indischen Mädchen, das von den Eltern von der Schule genommen wurde, nachdem es den täglichen Psychoterror nicht mehr ausgehalten hatte und prompt zum untersten Ende der Klassedurchgereicht worden war. Man beachte auch, dass sie es war, die gehen musste, nicht die Täter. Er wusste von den Hetzern und ihren Opfern, von den Selbstmordgefährdeten, wusste von der Brisanz der Situation, wusste davon, dass es akute lebensbedrohende Probleme in unserer Klasse gab. Wusste er auch von Paul, der so weit ging, sich beim Arzt einen Attestblock zu klauen und sich Blankoatteste auszustellen, bloß um den täglichen Angriffen entgehen zu können? Er hörte es mehrfach aus erster Hand von einigen Schülerinnen, die die täglichen Attacken nicht mehr aushielten und den Mut hatten, darüber zu sprechen. Er wusste es und besprach es wahrscheinlich mehrfach mit seinen pädagogisch ausgebildeten Kollegen im Lehrerzimmer. Und was war die Konsequenz dieser Gespräche, nachdem ein Teil des Kollegiums festgestellt hatte, dass es in unserer Klasse von der Jahrgangsstufe 7 bis 11 eine
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