Schule versagt
bestimmte Zahl selbstmordgefährdeter Schüler gab? Was sie taten, war noch verheerender, als einfach nichts zu tun.
Paul war ebenfalls seit der 7. Klasse dabei. Seine Eltern kamen aus Polen, arbeiteten beide Vollzeit, er hatte kaum Freunde. Ohne Rückhalt war er das prädestinierte Opfer der Mobber. Während des Unterrichts schwieg er immer; wenn es sich irgendwie vermeiden ließ, zog er sich aus Unterrichtsgesprächen zurück. Seine Noten rutschten konsequenterweise allesamt in den Keller ab. Eine Tatsache, die er nicht lange vor seinen Eltern verheimlichen konnte, was zu einer Erhöhung des Leistungsdrucks aus seinem Elternhaus führte. Es war offensichtlich, dass er seinen Eltern nicht den wahren Grund nannte für sein stetes Nicht-Beteiligen am Unterricht, und so trieb ihn sein Vater wieder zurück in die Schule. Hier witterten die Peiniger sofort, was los war, und ahnten wohl, dass ihr Verhalten ohne jedwede Sanktionen bleiben würde. Paul müsse sich endlich mehr beteiligen, fauchten die Lehrer ihn regelmäßig vor der gesamten Klasse an. Herr M. liebte ihn für seine Schwäche und führte ihn in größeren Abständen immer wieder an der Tafel vor, während unsere Französischlehrerin mehrfach in seiner Abwesenheit vor versammelter Klasse bekundete, dass Paul doch »sehr komisch« sei. Während des Unterrichts behandelte sie ihn oft wie einen kleinen dummen Jungen, dem sie auf die Sprünge helfen musste. Auf mich wirkte es, als ob sie es sichtlich genoss, ihn zu triezen. Ob die Lehrer wussten, dass er Tag um Taggemobbt wurde, war zu dem Zeitpunkt noch nicht klar. Erst als es eskalierte und aus verbalen zusätzlich körperliche Attacken wurden, müsste es jedem klar gewesen sein.
Die Lehrer erhöhten den Druck auf Paul und forderten Leistung – mehr mündliche Beteiligung, mehr Hausaufgaben vortragen und überhaupt. Paul lebte nun in einer Zwickmühle und auf einem Minenfeld. Die Lehrer verstanden nicht, dass jede mündliche Beteiligung am Unterricht ihn exponierte und jeder potenzielle Fehler den Hetzern mehr Angriffsfläche bot. Die wenigen »Freunde«, die er hatte, hatten selber Angst – Angst, für ihn einzustehen und das nächste Opfer zu werden. »Petzen« galt als feige und war geächtet – echte Männer lösen ihre Probleme selber. Die Mädchen in unserer Klasse teilten diese Idee übrigens bruchlos, obwohl es auch bei ihnen genug Kandidatinnen gab, die im Tagesrhythmus »bearbeitet« wurden. Jeder hatte die Lektion gelernt, als einige Mädchen – sie konnten die Situation wohl nicht länger hinnehmen – über Missstände in der Klasse berichteten. Die erwähnte Habt-Euch-doch-alle-lieb-Ansprache des Lehrers, gepaart mit Wir-fühlen-uns-so-schuldig-Blicken der Peiniger sollte folgen. Was auch folgte, als der Klassenlehrer sich mit einem Hab-ich’s-mal-wieder-geschafft-Gefühl im Lehrerzimmer verschanzt hatte, war die Schlussfolgerung, dass es Paul gewesen sein musste, der gepetzt hatte – die Intensität seiner »Behandlung« wurde erhöht. Um sich den Aggressoren zu entziehen, fehlte Paul regelmäßig, flüchtete sich in die Welt der Videospiele. Jetzt fingen die Hetzer an, Paul auch öffentlich zu diffamieren. Besagte Französischlehrerin hatte immer ein offenes Ohr. So sahen sie und einige ihrer Kollegen sich in ihrem pädagogisch qualifizierten Urteil bestätigt: Paul war das Problem. Einzelne Gegenstimmen regten sich, meldeten Zweifel an. Selbst einer unserer unbedarften Referendare erklärte hinter vorgehaltener Hand, er habe schon gehört, dass es in unserer Klasse »so einige Probleme gibt«.
Doch der Druck auf Paul wurde abermals erhöht. Seine Eltern wurden einbestellt – der Junge müsse sich ändern. Pauls Vater erhöhte den Druck ebenfalls. Offenbar war Paul noch immer zu stolz, um sich selbst und seiner Familie die täglichen Schikanen einzugestehen. Entschuldigtes Fehlen war nur möglich mit schriftlicher Mitteilung der Eltern oder bei Vorlage eines gültigen Attestsvom Arzt. Die Eltern waren keine Option mehr, auch der Arzt würde sich bald über die vielen Besuche von Paul wundern, also stahl er irgendwann einen ganzen Attestblock. Das ging eine Weile lang gut, bis die Hetzer dahinterkamen und das – bis dato – Gerücht brühwarm den Lehrern erzählten. Wieder wurden Paul und seine Eltern zu einem Gespräch einbestellt – Ende der 10., Anfang der 11. Klasse –, zwei Jahre Mobbing später also. Für Paul stand nun seine weitere
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