Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schule versagt

Schule versagt

Titel: Schule versagt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Faltin , Daniel Faltin
Vom Netzwerk:
Eines Tages, das Semester war schon etwas vorangeschritten, bat sie mich zu einem kurzen Gespräch nach Unterrichtsende und bot mir an, für den Kabelsender Comcast zu arbeiten   – als Bildmischer für Highschool Sportevents im Ü-Wagen . Ich konnte es nicht fassen. 17   Jahre jung war ich damals und bekam von meiner Lehrerin eine solche Chance geboten. Skeptisch fragte ich sie, ob sie das ernst meine   – zu ungewöhnlich war es für mich, dass ein Lehrer mich überhaupt fördern wollte und dann auch noch unaufgefordert und in dem Ausmaß. Sie antwortete: »Klar, du bist gut, du hast den Spirit und das ist deine Chance zu zeigen, was du wirklich kannst.« Was für ein Geschenk. Die größte »Chance zu zeigen, was ich kann«, wurde mir bis dato von Herrn M. geboten, als er mir offerierte, ich könne meine Note mittels Vorrechnen an der Tafel verbessern.
    Natürlich sagte ich zu, und ein paar Wochen später nahm ich tatsächlich vor dem Mischpult Platz. Ich genoss den Erfolg und die Verantwortung, die man mir ohne Bedenken, ohne Vorlageoffiziell verbriefter und dreifach gestempelter Gutachten und Formblätter einfach übertrug. Ich war bewegt von der Idee, endlich Leistung erbringen zu dürfen, wollte meine wirklichen Grenzen kennenlernen und war überwältigt von den schier endlosen Möglichkeiten, die sich auftaten. Türen wurden mir geöffnet   – ohne dass ich je darum gebeten hatte   – statt, wie sonst gewohnt, bewusst vor der Nase zugeschlagen.
    Um 7:30   Uhr begann der Unterricht. Wer nur Sekunden zu spät war, wurde vom Sicherheitsdienst abgefangen. 90   Minuten dauerte der Unterricht in einem Fach, in insgesamt vier Fächern pro Tag. Verspätungen wurden bestraft. Nicht gemachte Hausaufgaben wurden mit sofortigen Credit-Einbußen sanktioniert, die Note konnte so binnen weniger Wochen von einem A auf ein F 14 abrutschen   – und sie war nicht dominiert von der Willkür der Lehrer. Um halb drei endete der Unterricht, danach Sport und Hausaufgaben   – die gab es zahlreich und täglich   – und für meine amerikanischen Mitschüler ging es dann oft noch weiter zum Job. Wer hier vor zehn Uhr abends ins Bett geht, ist entweder ein Genie oder stinkend faul. Körperlich krank oder müde war man nie   – auch wenn man krank oder müde war. Die Spielregeln waren jedem klar, galten für jeden gleichermaßen und wurden nicht umgangen. Und es war alles kein Problem. Ich war da, jeden Tag, war gierig, war leistungsorientiert und am Abend todmüde. Überrascht war ich weniger über die neue Umgebung als über meine eigenen Fähigkeiten und Potenziale. Mir wurde erlaubt, diejenige Person zu sein, die ich war. Es war ein ungeschriebenes, gelebtes Gesetz, etwas zu leisten, Ziele zu haben und zu verfolgen   – es war selbstverständlich. Und das Beste an all der Arbeit war, dass sie sich lohnte. Doch die Belohnungen kamen nicht nur in Form von guten Noten. Durch meine sportlichen Erfolge hatte ich im zweiten Halbjahr eine Cheerleaderin zur Freundin. Blond, blaue Augen, sexy, das perfekte Klischee. Es war eine fast bilderbuchmäßige amerikanische Kitschgeschichte: Vom Schicksal in der deutschen Schule angeschlagener Junge geht in die USA, steigt durch eigene Kraft und vorbehaltlose Förderung zum Superschüler auf und erhält am Ende noch das schönste Mädchen. Doch wie kam es, dass ich, der in Deutschland als mittelmäßiger Schüler eingestuft worden war, über Nacht zum Klassenbesten aufstieg, einfach so?Bin ich ein Genie oder ist vielleicht das deutsche Schulsystem um Längen anspruchsvoller als das der Amerikaner? Wohl kaum.
    Jedes Land hat ein eigenes Schulsystem und in jedem Land sind Schüler unterschiedlich motiviert, faul, intelligent und begabt. In vielen Ländern habe ich inzwischen gearbeitet und zum Teil auch länger gelebt. Eines ist mir in Bezug auf die dortigen Schüler immer sofort aufgefallen   – eine Tatsache eint sie alle und unterscheidet sie von deutschen Schülern: Sie alle müssen wesentlich seltener dem Psychoterror und den persönlichen Störungen von Lehrern und Schülern gleichermaßen standhalten, sinnlose Kämpfe kämpfen oder ihnen nutzlos in den Weg geworfene Steine wegräumen. »The level of bullshit is lower«, würde einer meiner australischen Freunde wohl sagen. Ein ebenso gravierender Unterschied zu anderen Ländern besteht darin, dass in deutschen Schulen bei der Vergabe von Noten eine Willkür herrscht, die im Grundsatz auf der persönlichen charakterlichen

Weitere Kostenlose Bücher