Schule versagt
Koordinators, der mich mit den Worten »Ah, du bist sicher einer der Neuen« begrüßte und mir einen Stundenplanvordruck und zehn Blätter mit Zahlen und Namen in die Hand drückte, mich zur Tür rausschob und sagte: »Mach dir deinen Stundenplan mal selber, wenn du Probleme hast, komm wieder.« Später erfuhr ich von anderen »Neuen«, dass es ihnen nicht anders ergangen war. Ich fand mich erneut bei dem pädagogischen Koordinator ein, der mir missmutig half; immerhin tat er es überhaupt. Bewaffnet mit meinem neuen Stundenplan war ich also bereit, mein Abi in Angriff zu nehmen. »Ja, es wird nicht leicht!«, sagte uns der Direktor in seiner Ansprache in der längst sanierungsbedürftigen Aula. »Das deutsche Abitur ist noch was wert, das bekommt nicht jeder. Ihr müsst hart arbeiten. Seid pünktlich und aufmerksam!«
Um das Abitur zu machen, musste man allerdings nicht nur pünktlich und aufmerksam, sondern selbstverständlich auch offiziell, mit Stempel und Siegel, Schüler der Schule sein. Ich war bereits zwei Jahre lang in diese Schule gegangen, hatte meine Kurse besucht und meine Arbeit erledigt. Allerdings hatte es bis zu diesem Zeitpunkt die Sekretärin nicht geschafft, meinen Namen in den Computer einzugeben. Bis kurz vor meiner Abiturprüfung war ich nicht offiziell registriert und stand auf keiner Noten- oder Anwesenheitsliste. Ich hätte jeden Tag fehlen können oder noch besser, ich wäre vielleicht gar nicht zum Abitur zugelassen worden. Ich hatte auf diesen Missstand regelmäßig aufmerksam gemachtund wurde vom zweiten pädagogischen Koordinator nur ausgelacht. Man versicherte mir jedes Mal, ich würde garantiert bald offiziell aufgenommen werden – drei Wochen vor den Abiturprüfungen hat es dann auch tatsächlich geklappt.
Während ich auf meinen Eintrag in die offizielle Liste wartete und ihn stetig anmahnte, wollte ich herausfinden, ob und wie sehr es die Lehrer hier interessierte, was an ihrer Schule so vor sich geht. Ich verzichtete in Biologie bewusst auf den Hinweis, dass mein Name in der offiziellen Liste noch fehlte. Mit der Lehrerin unterhielt ich mich oft noch nach Unterrichtsschluss, wir grüßten uns, wenn wir uns sahen, und sie kannte auch meinen Namen. Aber es war ihr nie aufgefallen, dass sie für mich keine Noten in ihre Liste eingetragen hatte. Bei 24 Schülern pro Kurs und 24 Klassenarbeiten pro Semester hatte sie 24 Arbeiten korrigiert, aber nur 23 Noten in die Liste eingetragen. Sie merkte es eine Woche vor Notenschluss, als ich sie darauf hinwies. Ich musste wieder an die USA denken, an meinen ersten Tag in der Highschool. Meine Councelorin hatte nicht nur Zeit für mich, nein, sie hatte sogar meinen Stundenplan, was die Pflichtfächer betraf, schon fertig und fragte nach meinen persönlichen Interessen, die ich ohne Probleme im Einzelgespräch mit ihr mit dem Stundenplan vereinbaren konnte und die sich dort auch widerspiegelten.
Es waren 500 Schüler an meiner deutschen Schule. Jeder, der ein Problem oder ein Anliegen hatte, wurde als lästiger Bittsteller zur Tür rausgeschoben oder auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet. Hatte man Ideen zur Unterrichtsgestaltung oder für neue Projekte, wurde das von den Lehrern blockiert oder im Ansatz vernichtet. Ich erinnere mich noch sehr gut an meinen Kunstlehrer, der uns sagte: »Mein Bewertungskriterium ist, wie viel von
meinen
Ideen und Anregungen in eure Arbeiten einfließen.« Mit anderen Worten, wer eine eigene Meinung vertrat, bekam eine schlechtere Note. Die zu Beginn der Kursphase geforderte Eigeninitiative des Direktors verkümmerte in der Praxis zu einer leeren Worthülse. Es gibt ohne Zweifel hervorragende Lehrer, die sich tatsächlich um ihre Schüler kümmern und denen ihr Beruf am Herzen liegt – aber sie sind wohl in der Minderheit.
»Seid pünktlich!«, hatte der Direktor meines neuen Gymnasiums gesagt. Wen hatte er eigentlich damit gemeint? DieSchüler? Tatsächlich sollten wir täglich auf unsere Lehrer warten. Fünf oder zehn Minuten Verspätung waren keine Seltenheit – eigentlich war es die Regel ab Klasse 12. Entschuldigungen gab es viele, aber im Grunde war es auch egal. Egal war es allerdings nie, wenn ein Schüler zu spät kam. »Das fließt in eure Note ein!«, hieß es. Fließt es auch in die Bezahlung der Lehrer ein, wenn sie zu spät kommen? Oder fließt es in die Bezahlung der Lehrer ein, wenn sie sich nicht auf den Unterricht vorbereiten? Rechnet man, dass ein Lehrer im
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