Schule versagt
was mich so beeindruckte. Sie wirkten auf natürliche Weise gelassen, nicht so verkrampft oder gespielt cool wie wir. Sie waren selbstbewusster, erwachsener – in jeder Hinsicht weiter als wir und sie versprühten den Charme einer Zukunft, in der der tägliche Schüler-Lehrer-Terror weit weg war. Von dem Tag an wusste ich genau, was ich wollte. Ich bewarb mich in der 11. Klasse für ein Austauschjahr in den USA und wurde genommen. Amerika war Flucht auf der einen Seite, auf der anderen war ich fasziniert von diesen »Lebenskünstlern«, die ich ja schon aus meiner Kindheit kannte. Ich wollte endlich selber sehen, wie andere Kulturen leben, was sie umtreibt, wie sie »ticken«. Dank der Unterstützung meiner Eltern und Großeltern konnte ich den Platz in Michigan annehmen. Dem ging allerdings ein monatelanger Vorbereitungsprozess voraus.
Neben den Finanzen hatte ich zwei weitere Probleme zu lösen. Zum einen meine Englischnote, die zwischen Drei und Vier schwankte, für eine Aufnahme an einer U S-Highschool aber mindestens eine Drei sein musste, und zum anderen ein allgemeines Gutachten bzw. Empfehlungsschreiben, das mein Klassenlehrer – damals Herr P. – über mich verfassen sollte. In diesem Gutachten geht es um Formalien, aber auch darum, für die ausländische Schule schriftlich festzuhalten, dass man für ein Auslandsjahr geeignet sei. Da das Gutachten generell als eine Formsache galt – es sei denn, man war ein stark verhaltensauffälliger Schüler –, konzentrierte ich mich auf meine Englischnote. Meine Eltern und ich besprachen mit Herrn P. und meiner Englischlehrerin gemeinsam unser Vorhaben und baten um Unterstützung. Meine Englischlehrerin signalisierte, dass sie dies gern tun wolle und auch von meinem Vorhaben begeistert sei, doch ich müsse auch entsprechende Leistungen vorweisen. Das war nur fair und ich begann sofort damit, meine Note aufzubessern. Ironischerweise sollte mein Schulenglisch – egal ob Note Eins oder Sechs – mir in den Staaten kaum helfen, aber Vorschrift war nun mal mindestens eine Drei, also musste ich anfangen, mehr in diesem Fach zu leisten.
Herr P. sagte ebenfalls zu und versprach, ein entsprechendes Empfehlungsschreiben auf dem dazugehörigen einseitigen Formblatt abzufassen. Am Ende des 11. Schuljahres hatte ich mich auf eine gute Drei im Fach Englisch hochgearbeitet, Ärzte und Ämterbesucht, Frage- und Bewerbungsbögen ausgefüllt. Schließlich fehlte nur noch das Gutachten meines Klassenlehrers. Doch das Dokument, das er mir in die Hand drückte, war alles andere als ein Gutachten, eher ein Schlechtachten, und sprach mir im Ergebnis die Befähigung ab, an dem Austausch teilzunehmen. Was für ein Schlag ins Gesicht. Amerika ade, konnte das für mich heißen, nach all der Vorbereitung von über einem halben Jahr. Ich wusste nicht, was mich stärker traf, die Tatsache, dass ich vielleicht niemals ins Ausland kommen würde, dass all meine Vorbereitungen umsonst gewesen sein sollten, oder die Heckenschützenmentalität von Herrn P., der mich die gesamte Zeit über in dem Glauben gelassen hatte, er werde mich unterstützen. Ich hatte doch tatsächlich daran geglaubt, es sei möglich, dass er auf dem Formblatt die Kästchen wahrheitsgemäß und die drei bis fünf Sätze zu meiner Person ohne seine nun so deutlich offenbarte persönliche Abneigung hätte schreiben können. Und warum musste ich ausgerechnet ihn um das Gutachten bitten? Weil dies von den Austauschorganisationen – damals zumindest – so gewünscht war. Wenn nicht der Klassenlehrer, wer sonst könnte mehr über seine Schüler wissen, wer sie nachhaltiger unterstützen?
Wer war Herr P.? Er war Ende 50, trug bei jedem Wetter Latschen ohne Socken, bereitete seinen Unterricht nie vor und hatte eine rote Nase. Sein Kleidungsstil war schlicht, beharrlich trug er Tag für Tag, Woche für Woche eine schwarze Lederhose und ein kariertes Hemd. Seine glasigen Augen ließen in die Abgründe eines langen Lehrerlebens blicken. Er hielt nicht enden wollende Monologe, die oftmals nichts mit dem Unterricht zu tun hatten, und er widersprach den Ansichten der Schüler nie – jedenfalls nicht öffentlich und schon gar nicht im Unterricht. Die Folgen waren haarsträubend. »Also gut, was machen wir heute?«, war seine Standardbegrüßungsfloskel. Wir antworteten dann mit dem Namen des Faches, welches er laut Stundenplan unterrichten sollte. Rahmenpläne waren für ihn bedeutungslos. Ab und zu
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