Schule versagt
sagte eben, dass es nur mit Sanktionen ging. »Das ist eben so!«, »Es geht nur so!«, »Anders kommen wir nicht weiter!«. Wieder eine Patentlösung, nur anders als erwartet. Das Verhaltensmuster blieb.
Im Unterschied zu den USA ist es hier schwer, eine Sanktionsstruktur zu etablieren. Nicht nur, weil uns ein zuständiger Counselor fehlt, sondern weil zwei weitere Voraussetzungen nicht gegeben sind. In den Vereinigten Staaten war das System selbstverständlich, es war tatsächlich etabliert. Alle Schüler akzeptierten es und kannten die Mechanismen und die einzelnen Abstufungen. Wichtiger aber war, dass alle wussten, wer auch immer gegen die Regeln verstieß, hatte klar definierte Nachteile. Es spielte keine Rolle, ob man reich oder arm, beliebt oder unbeliebt war, welchen Beruf die Eltern hatten, ob man es insgesamt schwer oder leicht hatte. Diese Indikatoren blieben unberücksichtigt. Das bedeutete auch, dass keiner mit seiner schweren Kindheit oder mit wie auch immer gearteten Benachteiligungen argumentieren konnte. Das System traf alle gleich. Diese Voraussetzung war die wichtigste, um die Akzeptanz des Regelsystems und damit auch sein Funktionieren zu gewährleisten.
Und auch diese Voraussetzung ist bei uns nicht gegeben. Ältere Kollegen plädierten in den Konferenzen, im Gegensatz zu vielen der jüngeren Generation, mit dem sozialen Status, individuellen Problemen oder vorausgegangenen Benachteiligungen ihrer Schüler. Die sprichwörtliche schwere Kindheit war die Rundumschlagkeule, die jede Gegenargumentation im Keim erstickte.»Aber wir können doch nicht …« begannen viele Ausführungen, die einzelne Schüler vor dem tatsächlichen Vollzug von Sanktionen bewahren sollten. Diese Kollegen sahen ihre Schutzbefohlenen als Opfer, denen ein hartes Schicksal jede Möglichkeit der persönlichen Entfaltung und der Verbesserung ihrer Lage genommen hatte. Ein Kollege vereinbarte mit einem dieser Problemfälle eine sogenannte Zielorientierung. Der betreffende Schüler hatte bis dahin bereits so viele unentschuldigte Fehlzeiten, dass konzediert wurde, Ermahnungen, Fehlzeitenbriefe und die Auflage, dass Entschuldigungen nur noch unter Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung anerkannt würden, hätten zu keiner Verbesserung geführt. Der Schüler unterschrieb eine Vereinbarung, die ihm auferlegte, bei unentschuldigtem Fehlen oder Zuspätkommen in der nächsten Unterrichtsstunde den Inhalt der versäumten oder teilweise versäumten Stunden kurz zusammenfassen zu können. Diese Zusammenfassung solle benotet werden. Zudem habe er jede Woche einen Feedback-Report mit seinem Klassenleiter durchzuführen. Als Ziel der Vereinbarung war die Reduzierung der unentschuldigten Fehlzeiten auf weniger als 10 Schultage in zwei Monaten und auf weniger als 14 Schultage in sechs Monaten avisiert. Der Erfolg der komplizierten und schriftlich akribisch genau kodifizierten Aktion war gleich null. Und er musste gleich null sein, denn der Schüler veränderte sich nicht. Er nahm sich mit, so wie er war.
Mit meinen Schülern hatte ich nach kurzer Besprechung der Regeln Klarheit darüber geschaffen, was ich tolerierte und was nicht. Nichttolerieren bedeutete immer ein Gespräch, bei dem es um den Regelverstoß ging. Selbstverständlich hielt ich mich selbst an die Regeln. Ich kam nicht zu spät, fehlte nicht unentschuldigt, kam nie unvorbereitet in den Unterricht. Und ich hatte klargemacht, dass ich nichts von Disziplinierung, aber sehr viel von Selbstdisziplin hielt. Wir sprachen darüber, welches die Unterschiede zwischen diesen beiden so ähnlich klingenden Werten seien. Selbstdisziplin bedeutet Eigenverantwortung. Es ist die Bereitschaft, Verantwortung für sich selbst und das eigene Handeln zu übernehmen, einschließlich der Folgen dieses Handelns. Disziplinierung setzt Kontrolle voraus. Man handelt in dieser oder jener Weise, weil man kontrolliert wird und negativen Sanktionenentgehen möchte, nicht weil man es selbst will. Und weil man es nicht will, vielleicht sogar eine Verweigerungshaltung entwickelt hat, wird man dazu verführt, die Disziplinarmaßnahmen zu umgehen, zu unterlaufen. Disziplin ist immer von außen gesetzt, sie ist ein Outside-In, der im besten Fall Anpassung bewirkt. Aber mit Outside-Ins kommt man nicht weiter, wenn es darum geht, die eigene Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen. Man sollte die Eigendynamik des Kontrollprozesses nicht unterschätzen, der die Schüler zur Passivität bringt und oft zur
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