Schule versagt
Kollegen standen da mit den Zeiterfassungsbögen, und das Einzige, das ihnen einfiel, war der Appell an ihre Schüler, sich mehr Zeit für die Schule einzuräumen. Später wurden die Eltern angeschrieben, zu einem Gesprächsabend eingeladen, und das Zeitmanagement wurde noch einmal zum Thema gemacht. Verändert hat sich trotzdem nicht viel. Die ernsthaft interessierten Schüler blieben ernsthaft interessiert und die nicht interessierten blieben schlecht. Die meisten Vertreter dieser Kategorie schafften die Versetzung nicht.
Alle Kontrollmechanismen waren umständlich, dysfunktional und lösten das zugrunde liegende Problem nicht. Was also tun? Die Kontrollmechanismen vereinfachen und vereinheitlichen! war ein Vorschlag in einer der vielen dieses Problem betreffenden Konferenzen. Ein Sanktionssystem schaffen, das konsequent angewendet wird und effektiv wirkt. Ich hatte das in den USA erlebt. Dort gibt es ein sogenanntes Tardy System, einen feststehenden Pool von negativen Sanktionen, die unabhängig von Motiven und Personen angewendet werden. Wer z. B. unpünktlich zum Unterricht erscheint, wird in den Tardy Room geschickt, wo er den Schultag verbringt und als fehlend gilt. Je nachdem, wie viele Male man in den Tardy Room geschickt wurde, treten automatisch weitereSanktionen in Kraft. Zum Beispiel erfolgt nach vier Aufenthalten dort eine Verwarnung durch den Counselor, nach sechsmaligem Aufenthalt Suspendierung für einen Tag und Benachrichtigung der Eltern, nach achtmaligem Aufenthalt Suspendierung für zwei Tage, erneute Benachrichtigung der Eltern und Pflicht zur Anfertigung und Führung eines Progress Report. Das Ganze kann sich bis zum Schulverweis steigern. Der Unterschied zu unseren Sanktionierungssystemen ist, dass alle Maßnahmen eindeutig festgelegt sind, dass sie personenunabhängig gelten und dass es an jeder Schule einen Berater (Counselor) gibt, in dessen Zuständigkeit alle Fälle dieser Art liegen. Die Lehrer sprechen nur die Sanktionen aus, die sie einer Tabelle entnehmen. Mit administrativen Zusatzarbeiten sind sie nicht belastet. An unseren Schulen konnte eine derartige Vereinheitlichung schon deshalb nicht so bruchlos funktionieren wie in den USA, weil wir keine psychologischen Berater haben. Zumindest nicht in Zuständigkeit für nur eine einzige Schule. Unsere Schulpsychologen verwalten mehrere Schulen ihres Bezirkes gleichzeitig, sind selten vor Ort und ihre Aufgabe ist nicht die eines ständigen Beraters für alle Schüler mit festen Sprechzeiten und einem Büro in der Schule.
In den Konferenzen forderten häufig junge Kollegen ein hartes Sanktionierungssystem. Das waren die, von denen man es vielleicht am wenigsten erwartet. Viele von ihnen kamen frisch vom Dreiersystem Schule-Studium-Referendariat und spürten nun zum ersten Mal den harten Berufsalltag. Als Referendare waren sie noch in einem Schonraum gewesen. Sie hatten gelernt, sich an die Erwartungen der Seminarleiter anzupassen und ihre pädagogischen Dogmen zu verinnerlichen. Nur leider boten diese Regeln nicht die nötige Offenheit und Flexibilität, die man im Umgang mit so vielen verschiedenen Personen und Persönlichkeiten in der Entwicklungsphase der Pubertät braucht. Sie merkten schnell, dass LIMO und andere Patentrezepte längst nicht über jeden Konflikt im Schulalltag trugen. Also waren sie verunsichert, manche stark, denn, wie das Kapitel »Die Schülerrolle« zeigt, leben wir in der Schule von heute nicht auf der Insel der Seligen. Da gibt es harte Brocken, die im Weg liegen und weggeräumt werden müssen. Vielleicht kann man sich hin und wieder die eine oder andere Illusion bewahren. In der Regel holt der Alltag alle ein,und in ihrer Hilflosigkeit plädieren einige der jungen Kollegen für Härte, für Strafen und für Unnachgiebigkeit. Diejenigen, die zu Beginn ihres Berufsalltags besonders schülerfreundlich waren, zu Gesprächen und Diskussionen bereit, gewappnet mit Rezepten des Umgangs miteinander, erwiesen sich oft als unfähig, diese gesetzte Prämisse weiterzuleben – und das nach einem, zwei oder drei Jahren Berufserfahrung. Nach dieser kurzen Zeit blieb aus ihrer Sicht keine Alternative als die klarer, strenger Sanktionen. Keine Gespräche mehr, keine Problematisierungen – alles zu viel, alles nutzlos! Sie fühlten sich tief innen drin als Opfer. Als Opfer eines Systems, das sie so unvorbereitet in diese Schrecknisse geschickt hatte. Nach außen propagierten sie ihren Rückzug als Erfahrung. Und die
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