Schule versagt
Klassenleiter alle Folgen des Fehlverhaltens und ließ jeden einzelnen Schüler seiner Klasse die Kenntnisnahme schriftlich bestätigen. Er hatte genug davon, dass offenbar jeder kam und ging, wie er wollte, und hoffte, mit seiner Initiative diesem Treiben ein Ende zu bereiten.
Ein anderes Beispiel: Die Hausaufgaben- und Unterrichtsvorbereitungskultur ließ in einigen Klassen und bei so vielen Schülern zu wünschen übrig, dass die in der Klassenleitung engagierten Kollegen beschlossen, einen Zeitmanagementplan für ihre Schüler auszuarbeiten. Zur Vorbereitung hatten sie einen Arbeitsbogen angefertigt, um das zu lösende Problem zu verdeutlichen. In einem Wochen-Zeitplan musste eingetragen werden, wie viel Zeit die Schüler für welche Aktivitäten gebraucht hatten. Dann sollten sie den Wochendurchschnitt errechnen – bis auf zwei Stellen hinter dem Komma.
Ein zweiter Arbeitsbogen zum Zeitmanagement betraf überflüssiges Fernsehen, Computerspiele, Chatten, unnötiges Telefonieren, nach unauffindbaren Dingen suchen, Chaosbeseitigung im Zimmer, Störungen beim Lernen (Eltern, Geschwister etc.). Hiersollte auf die Minute genau eingetragen werden, wie viel Zeit die genannten Aktivitäten stehlen und worauf man verzichten könne.
Was verdeutlichen diese Beispiele der Verspätungsregelung, des Umgangs mit Fehlzeiten und mit Leistungsschwächen, abgesehen davon, dass sich manches wie Realsatire liest? Zunächst belegen sie, dass bürokratische Kontrollmechanismen tatsächlich verwendet werden, wenn es um die Lösung von prinzipiellen Konflikten geht. Deutlich wird aber auch, wie viel zusätzliche Arbeit auf die Kollegen zukommt, die auf Kontrolle setzen. Es stellt sich die Frage, ob man diese Energie nicht effektiver einsetzen kann. Sie stellt sich mir deshalb so eindeutig, weil ich die Ergebnisse der Bemühungen kenne.
Die Verspätungsregelung wurde häufig auf eine so raffinierte Art unterlaufen, dass ich über die Originalität, den Erfindungsreichtum und die Schlagfertigkeit von Schülern staunte, die im Unterricht sicher nicht durch solche Qualitäten geglänzt hatten. Die schriftlichen Begründungen reichten von »Ich habe verschlafen«, über »Der Wecker hat nicht geklingelt« bis »Ich bin am Vorabend zu spät ins Bett gegangen, weil ich noch Mathe machen musste«. Die Schüler schrieben diese Begründungen nicht freiwillig auf; sie mussten an die Regelung erinnert werden. Dann entfernte sich der ohnehin schon Verspätete sofort wieder aus dem Unterricht, um seinen Verspätungszettel zu schreiben. Damit ließen sich einige der Kandidaten viel Zeit. Das nachfolgende Gespräch über Vermeidungsstrategien fand in der Regel in der Pause statt, sodass der betroffene Lehrer diese Erholungszeit vergessen konnte. Über angemessene Sanktionen zu sprechen war gar nicht möglich, weil oft schon wieder eine neue Unterrichtsstunde begann, noch bevor man überhaupt auf diesen Punkt gekommen war. Die Aufbewahrung des Verspätungszettels an einem auffindbaren Ort und das Notieren des Verspäteten waren ein zusätzlicher Aufwand, denn man musste wissen, wer bereits zum zweiten, dritten oder gar vierten Mal zu spät kam. Und außerdem musste der Zettel stets zur Hand sein, denn er sollte ja dem Wiederholungstäter auf seinem Weg zum Klassenleiter mitgegeben werden, damit dieser den Schüler mit seinen Aussagen konfrontieren könne.
Nur wenige kamen aus dem gleichen Grund noch einmal zu spät. Die Schüler hatten schnell gemerkt, dass sich die Regelung genau an dieser Stelle unterlaufen ließ. Verspäteten sie sich beim zweiten Mal aus einem anderen Grund, galten sie wieder als zum ersten Mal Verspätete und vermieden aus diesem Grund die nachfolgenden Sanktionen. Diejenigen, die zweite und dritte Verspätungen riskierten, nahmen die negativen Sanktionen in Kauf, gelobten Besserung und kamen wieder zu spät. Es war immer dieselbe Klientel, die sich auf diese Weise verhielt. Sie hatten begriffen, dass ein »Mea culpa!« Absolution brachte und schöpften die Opferrolle voll aus. Bis es dann endlich einmal zu einer Klassenkonferenz kam, mussten schon alle drei Gründe – ständige Verspätungen, hohe unentschuldigte Fehlzeiten und gleichbleibend schlechter Leistungsstand – eine solche rechtfertigen.
Das Zeitmanagement der Schüler – unser drittes Beispiel – war schlecht. Computerspiele, Fernsehen, Freunde nahmen viel mehr Zeit ein als die Unterrichtsvorbereitung. Es war das erwartete Ergebnis. Die
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