Schulterwurf
Geheimnis
Alle spürten, dass es dem Großmeister immer noch schwerfiel, das Geheimnis zu verraten, aber endlich begann er zu erzählen.
»Die Ursprünge der japanischen Selbstverteidigungskünste wurden zwischen dem 8. und 10. Jahrhundert von chinesischen Mönchen nach Japan gebracht und dort an den Höfen der Fürsten von den Samurai, der Kriegerkaste,
ausgeübt. Im Jahre 1868 dann wurde das fast siebenhundert Jahre dauernde Shogunat abgeschafft. Der Kaiser übernahm wieder
die Macht im Lande und besiegelte das Ende der Samurai. Sie mussten alle ihre Waffen ablegen. Aber auch die Kunst des waffenlosen
Kampfes und der Selbstverteidigung geriet zunehmend in Vergessenheit. Erst Jigoro Kano, der bei den wichtigsten alten Jiu-Jitsu-Meistern
seiner Zeit gelernt hatte, suchte das zugrunde liegende Prinzip aller alten Kampftechniken und befreite die alten Kriegskünste
von allen gefährlichen Elementen.Stöße, Schläge, Tritte und viele Hebeltechniken wurden ersatzlos gestrichen. Die verbliebenen Techniken ermöglichten einen
sportlichen Zweikampf, ohne dass größere Verletzungen zu befürchten waren. Diesen neuen Sport nannte er Judo. Das heißt so
viel wie ›flexibler Weg‹. Dabei sollen vorhandene Kräfte möglichst effektiv eingesetzt werden. Aber man sollte nie vergessen,
dass Judo trotz seiner sportlichen Ausrichtung, die ich begrüße, vor allem eine Kampfkunst war und ist!«
Linh lauschte andächtig den Worten des Meisters. Michael hingegen wusste nicht so recht, warum Yuuto ihnen einen spontanen
Vortrag über die Geschichte des Judo hielt. Er jedenfalls fand das ein wenig langweilig und musste ein Gähnen unterdrücken.
Auch Lennart begriff nicht so ganz, worauf Yuutos Vortrag hinauslaufen sollte. Im Gegensatz zu Michael aber fragte er danach.
Der Großmeister sah ihn aufmerksam an. »Der Kern liegt in der Entfernung aller gefährlichen Elemente, die in den alten Kampftechniken
der Samurai noch enthalten waren«, erklärte er. »Denn diese gefährlichen Elemente sind nicht vergessen, sondern manifestiert.«
»Mani. . . was?«, fragte Michael.
»Aufgeschrieben«, übersetzte Ilka.
»Genau!«, stimmte der Großmeister zu. »Und zwar in diesem ebenso wertvollen wie gefährlichen Buch.«
»Was?« Linh fuhr hoch.
»Ja«, bestätigte der Großmeister. »Alle verbotenen Techniken und gefährlichen Würgegriffe, besonders aber auch alle tödlichen
Kampfgriffe sind in diesem Buch aufgezeichnet.«
»Tödlich?« Linhs Stimme überschlug sich fast. »Das gibt es doch gar nicht!«
Yuuto nickte. »Doch. Natürlich. Die Samurai waren Krieger, Linh.«
»Tödliche Griffe?«, staunte Michael. »Aber die gibt es doch in anderen Kampftechniken auch. Karate zum Beispiel. Oder die
alten Schwertkämpfe und so.«
»Sicher«, gab Yuuto zu. »Den Menschen sind wahrlich unzählig viele Methoden eingefallen, sich gegenseitig zu töten. Aber das
Besondere am Judo ist eben gerade, dass sämtliche gefährlichen und tödlichen Griffe gelöscht wurden. Judo ist mehr als ein
Sport. Es ist eine grundlegende Art zu leben. Und ihr wesentlicher Kern ist die Friedfertigkeit, versteht ihr?«
Linh nickte eifrig. Für sie war es selbstverständlich, aufrichtig, hilfsbereit und bescheiden zu sein.
Yamada Yuuto freute sich, wie sehr Linh ihn verstand. »Und deshalb wäre es verheerend, wenn man die gefährlichen Kampftechniken
aus den alten Aufzeichnungen hervorholen und wieder aufleben lassen würde.«
Lennart fing an zu begreifen. »Und diese alten Techniken stehen alle in dem gestohlenen Buch?«
Yuutos Gesicht verzog sich zu einer traurigen Miene. »Ja! Es ist vermutlich das einzige Buch, in dem sie noch beschrieben
sind. Ich habe es vor vierzig Jahren meinem guten Freund Gustav Bruhn überlassen. Viele sind hinter diesem Buch her. Einflussreiche
Leute würden jeden Preis dafür bezahlen. Jeder einzelne Griff würde in einschlägigen Kreisen hoch gehandelt. Für dieses Wissen
würden Millionen geboten. Niemand hatte es bei Gustav vermutet. Er hatte es zeit seines Lebens wohl verwahrt . . .« Yamada
Yuuto legte seinen Kopf in die Hände und fügte mit verzweifeltem Gesichtsausdruck an: ». . . bis vor einigen Wochen. Irgendjemand
hat es herausbekommen. Ich weiß nicht, wie. Aber Gustav fühlte sich verfolgt. Ich habe mich sofort um die Reise hierher bemüht.
Er hat mir aber leider nichtgesagt, wer ihm zusetzte. Und ich kann ihn jetzt nicht mehr fragen, weil er überraschend
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