Schumacher, Jens - Deep
der Fahrt hatte Henry den Eindruck gehabt, dass es noch heißer geworden war. Zum Glück hatte er seinen Koffer daheim hauptsächlich mit T-Shirts und Shorts vollgestopft.
Das oberste Stockwerk des Tempels bot ein beeindruckendes Bild. Auf einer quadratischen Fläche erhoben sich drei mächtige Rundterrassen, eine über die andere gestapelt. Mannsgroße Steinglocken thronten in regelmäßigen Abständen auf allen Ebenen. Durch rautenförmige Öffnungen im Stein waren betende Buddha-Statuen im Innern zu erkennen. Henry musste an die Amerikanerin denken, die den Borobudur mit einer Schichttorte verglichen hatte. Er schmunzelte – die Rundterrassen erinnerten tatsächlich an einen gigantischen Kuchen, den man statt mit Kerzen mit steinernen Glocken verziert hatte.
Durch das Gedränge der allgegenwärtigen Touristen arbeitete sich Henry bis zur höchsten der drei Terrassen empor. Hier ragte eine einzelne, bedeutend größere Steinglocke auf. Sie wies keinerlei Öffnungen auf, ob sich im Innern ebenfalls ein Buddha befand, ließ sich nicht sagen.
Diese Ebene bot eine gute Aussicht über den ganzen Tempel. Suchend ließ Henry den Blick über die runden Terrassen schweifen, hielt Ausschau nach Absperrungen, Zelten oder sonstigen Anzeichen dafür, dass irgendwo zwischen Steinglocken und Touristen ein Team von Wissenschaftlern an der Entzifferung alter Inschriften arbeitete. Doch nichts dergleichen war zu sehen.
Nachdem er die zentrale Glocke einmal umkreist und sämtliche Rundterrassen inspiziert hatte, suchte er die tiefer gelegenen Galerien mit den Reliefs ab. Er entdeckte etliche kleinere Ausgaben der steinernen Glocken, die die Mauerzinnen zierten, weitere monströse Wasserspeier, und weit unten, noch mindestens drei Etagen von der »Sphäre des reinen Geistes« entfernt, die Reisegruppe mit den fetten Amerikanern. Davon abgesehen gab es nirgendwo Anzeichen für wie auch immer geartete wissenschaftliche Aktivität.
»Hier steckst du also! Ich hatte mir schon gedacht, dass du nicht tatenlos unten warten würdest.«
Überrascht drehte sich Henry um. Hinter ihm stand Dr. Pelham, das Gesicht leicht gerötet, den Tropenhut in den Nacken geschoben.
»Wie ich sehe, bewunderst du die heiligen Stupas.«
»Die was?«
Pelham deutete auf eine Steinglocke unmittelbar neben Henry.
»Die Stupas. So nennen Buddhisten diese glockenförmigen Gebilde. Eintausendfünfhundert davon sind über den ganzen Tempel verteilt, zweiundsiebzig hier oben auf den Rundterrassen. Dazu die Hauptstupa im Zentrum, die den größten, jedoch unvollendeten Buddha beinhaltet.«
»Aha.« Henry musterte die Stupas erneut, dann wandte er sich an den Archäologen. »Tut mir leid, dass ich weggelaufen bin, Dr. Pelham. Ich dachte, ich würde hier auf Dad und seine Kollegen stoßen.« Er sah Pelham fragend an. »Aber nun sieht es so aus, als wären sie gar nicht hier.«
»Das sind sie schon … in gewisser Weise.« Mit einem geheimnisvollen Lächeln bedeutete der Archäologe Henry, ihm zurück zur Treppe zu folgen.
2
BOROBUDUR, 22. SEPTEMBER 2013
Am Fuß des Tempels stellte sich heraus, dass Dr. Pelham den Land Rover lediglich gegen ein anderes Fahrzeug getauscht hatte, ein ziemlich klappriges Gebilde mit drei Rädern, das Henry an eine indische Rikscha erinnerte. Der Archäologe schwang sich auf den Sattel und deutete einladend auf den Passagiersitz hinter sich. »Bitte Platz zu nehmen! Dein Gepäck habe ich im Wagen gelassen. Draußen, beim Candi Mendut, gibt es kaum Parkmöglichkeiten, deshalb will die Verwaltung, dass wir die Autos hier stehen lassen. Wir könnten die restliche Strecke auch zu Fuß zurücklegen, aber mit dem Dreirad geht es schneller.« Er wartete, bis Henry saß, dann begann er, in die Pedale zu treten. Das Gefährt nahm Tempo auf und holperte auf einem schmalen Pfad dahin, der in gerader Linie vom Borobudur wegführte.
»Candi Mendut?«, wiederholte Henry. Er erinnerte sich, dass der texanische Fremdenführer diesen Namen erwähnt hatte.
»Eines von zwei kleineren Heiligtümern, die ebenfalls als Teile der Borobudur-Anlage angesehen werden«, gab Pelham keuchend Auskunft. »Die Nebentempel Candi Mendut und Candi Pawon liegen auf einer gedachten West-Ost-Achse zum Hauptmonument. Der Grund für diese Anordnung ist bis heute ungeklärt. Man vermutet, dass es vor zwölfhundert Jahren einmal eine bestimmte Reihenfolge gab, in der Gebete und Meditationen an allen drei Stätten abgehalten wurden.«
»Und diese Inschriften,
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