Schumacher, Jens - Frozen - Tod im Eis
Stimme in der Dunkelheit, nur ein paar Dutzend Meter links von ihnen:
»Hier drüben bisher nichts, keine Menschenseele!« Es war Morten Gray. »Bei Ihnen, Dr. Golitzin?«
»Njät! Nur beschädigtes Equipment«, brüllte der Russe zurück. »Wir nehmen uns jetzt das Innere der Zelte vor.«
Sie waren beim großen Hauptzelt angekommen – oder vielmehr dem, was davon übrig war. Die rechte Hälfte des Gerüsts war in sich zusammengesackt, verbogene Stangen unter der Plane ließen auf die Einwirkung roher Gewalt schließen. Die linke Hälfte des Zelts stand noch, jedoch war auf dieser Seite von der Außenplane nicht mehr viel übrig. Zerfaserte Fetzen, auf denen sich mit viel Fantasie noch das zackige Logo der Spyker Corporation erahnen ließ, flatterten an den Trägerstangen wie Geisterfinger.
Golitzin wandte sich an Henry und Lincoln. »Dr. Cavanaugh und ich gehen hinein und sehen uns um. Ihr nehmt euch diese beiden Zweimannzelte dort vor.« Er richtete seine Taschenlampe auf zwei kleinere Unterkünfte, eine weitgehend intakt, die andere teilweise in sich zusammengestürzt. »Solltet ihr auf jemanden stoßen, ruft uns. Und falls ihr etwas findet, das uns Aufschluss darüber liefert, was hier vorgefallen ist, bringt es zum Hauptzelt. Los jetzt!«
Mit einem mulmigen Gefühl schritt Henry auf die Zelte zu. Ein kurzer Seitenblick zeigte ihm, dass Lincolns Gesicht so weiß war wie der festgetretene Schnee zu ihren Füßen.
»Keine Panik, Link«, hörte Henry sich selbst sagen. »Golitzin und Eileen sind gleich dort drüben. Und ich bin da, auch nur ein paar Meter von dir entfernt.« Er deutete auf das intaktere der beiden Zelte. »Dir kann nichts passieren.«
»Shit, woher willst du das wissen?«, fuhr Lincoln ihn an. »Irgendwas ist hier passiert, und ich habe keine Lust, dass es noch mal passiert, während ich mit meinem Arsch in einem zusammengekrachten Zelt stecke.«
Henry nickte. Er wäre selbst am liebsten zum SnoCat zurückgelaufen und hätte sich im Führerhaus verkrochen. Aber erstens hätte ihm das im Ernstfall vermutlich wenig gebracht – zumindest ließ das Fahrzeug des Spyker-Teams diesen Schluss zu –, und zweitens hoffte er im Gegensatz zu Lincoln, hier jemanden zu finden.
Der Gedanke an seinen Vater, der vielleicht verletzt irgendwo unter den Planen lag und auf Hilfe wartete, verlieh Henry neue Entschlossenheit. Er trat an das kleine Zelt und griff nach den unbefestigten Planen der Eingangsschleuse, um sie zurückzuschlagen. Da fiel das Licht seiner Taschenlampe auf die Seitenwand des Zelts.
Sie war nicht intakt, wie es von Weitem ausgesehen hatte. In der Mitte klaffte vielmehr ein langer, senkrechter Riss, eingerahmt von langen dunkelroten Bahnen, die auf beiden Seiten senkrecht nach unten verliefen.
Blut!
Henry versuchte zu schlucken, doch der Kloß in seinem Hals hatte die Größe eines Baseballs angenommen. Vorsichtig zog er die Eingangsplane beiseite und ließ seinen Lichtstrahl ins Innere des Zelts schweifen.
Drinnen sah es auf den ersten Blick kaum anders aus als draußen: ein zertrümmerter Klapptisch, verstreute Nahrungsvorräte sowie ein hoffnungslos zerstörter Kerosinheizer. Henry leuchtete weiter in die Runde – und ließ vor Schreck beinahe seine Taschenlampe fallen.
Vor der zerrissenen Zeltwand befand sich ein Meer aus gefrorenem Blut. Die Lache war um einiges größer als die, die Golitzin draußen entdeckt hatte, die Oberfläche sonderbar uneben. Fetzen fransigen Gewebes schienen darin festgefroren zu sein.
Übelkeit überkam Henry. Für einen Augenblick war er sicher, dass es sich um die Überreste eines menschlichen Körpers handeln musste. Zögernd richtete er die Lampe darauf, sah genauer hin … und erkannte voller Erleichterung, dass die Fetzen lediglich von einem Iso-Schlafsack stammten.
Oberhalb der ehemaligen Schlafstätte war die Zeltplane bis zur Decke mit roten Spritzern besudelt. Henrys Übelkeit wallte erneut auf. Würgend taumelte er rückwärts. Er wollte weg hier, raus aus diesem tiefgekühlten Schlachthaus, wo allem Anschein nach ein Mensch zu Tode gekommen war!
Er hatte den Eingang fast erreicht, da stieß er mit dem Fuß gegen einen kleinen, leichten Gegenstand. Er richtete den Lichtstrahl zu Boden und erkannte eine flache Digitalkamera. Das Gehäuse bestand aus Aluminium und schien beim Sturz keinen Schaden genommen zu haben. Ohne lange nachzudenken, bückte er sich und hob das Gerät auf, bevor er mit raschen Schritten das Zelt verließ.
Draußen
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