Schussfahrt
Kritzeln Jos Worte mit, als ein knarzendes Geräusch
seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er blickte alarmiert durch den Raum. Keine
Katzen in Sicht – Jo konnte sich im Moment auch keinen Reim darauf machen, bis
ihr Blick sich Richtung Boden senkte. Diesmal versagte ihre Beherrschung, und
es entschlüpfte ihr ein Grunzlaut. Reiber war Jos Blick gefolgt und zum zweiten
Mal verfiel er in die Eisblockstarre. Sehr konzentriert nagte da ein braunes
Kaninchen an seinem Haferlschuh. Besonders die Schnürung zwischen Sohle und
Oberleder schien es dem Langohr angetan zu haben.
Reibers Stimme
brach: »Der frisst meinen Schuh, frisst ihn einfach …«
Jo packte das Karnickel.
»Er ist eine Sie, heißt Frau Hrdlicka, und sie hat als echte Wienerin eben
Geschmack am Landhausstil.« Auwei! Lieber alle Contenance vergessen, als auf
einen guten Witz zu verzichten. Ich bin die Meisterin des falschen Wortes zur
falschen Zeit, dachte Jo.
Reiber starrte noch
immer nach unten, sprang plötzlich auf und konnte gerade noch drohen: »Wir
sehen uns wieder« – und weg war er. In einem Auto, dessen Frontscheibe und
Motorhaube überzogen waren von den Abdrücken schmutziger Katzenpfoten. Niemand
vertreibt ungestraft eine Salontigerin aus ihrem Salon!
Jo setzte das
Kaninchen auf den Boden und ließ sich dazu plumpsen. Sie lachte so schallend,
wie sie schon lange nicht mehr gelacht hatte. Es war wie eine Befreiung von all
dem Ärger der letzten Wochen, als wäre ein Knoten geplatzt, denn Jos psychische
Verfassung war nicht immer die Beste gewesen. Zeitweise war es verdammt schwer,
an ihren Überzeugungen festzuhalten. Es ermüdete, gegen die Allgäuer Hautevolee
und gegen das Event Castle zu kämpfen. Als Tourismusdirektorin stand sie im
Bann des Ökonomie-Ökologie-Konflikts.
Aber heute konnte
sie endlich mal lachen.
Sie sah auf die Uhr.
Halb zehn – eineinhalb Stunden hatte dieser Reiber ihre Zeit und ihre Nerven
strapaziert. Vorsichtig zog sie unter dem Diastapel ein Telefon raus. Mist, der
Akku war leer. Sie tauchte in ihrem Rucksack nach dem Handy und rief im Büro
an:
»Patti, Jo hier. Du
brauchst heute Vormittag nicht mehr mit mir zu rechnen, ich arbeite zu Hause an
dem Prospekt weiter. Ach ja, wenn du mich erreichen musst, ruf über Handy an.
Der Akku beim anderen Telefon ist leer.«
Patrizia gluckste: »Ordnung ist eine Tugend, aye, aye Chef, ich komm hier schon zurecht.«
Jo marschierte ins
Bad und beschloss, sich zur Feier des Tages die Haare in »Light Kupfer« zu
färben. Schließlich hatte sie immer eines dieser zerbrechlichen Wesen mit
Porzellanhaut sein wollen, mit endlos langen, roten Naturlocken, tiefgrünen
Augen unter mysteriösem Wimpernklimpern. Ach ja – und mindestens
einsfünfundsiebzig groß mit einer Figur, die Männer zu den wüstesten Phantasien
anregt und Frauen vor Neid zu Mordgedanken treibt. Immerhin – die Haare waren
wirklich golden, wenn auch glatter denn glatt. Da sie nun mal keine
einsfünfundsiebzig war, kam seit Jahren regelmäßig der prämenstruelle
Depressionsschub über zu dicke Hüften – egal, ob sie fünfzig oder siebzig Kilo
wog. Seit Frauengedenken – also etwa, seit Jo vierzehn Jahre alt war – fand sie
sich zu dick, selbst wenn dank brutalster Diäten zwischendurch die 29er Jeans
wieder passten. Aber nur zwischendurch!
Nun stand sie in
32er Jeans vor dem Spiegel und betrachtete die Falten um die Augen. Mehr aus
wissenschaftlichem Interesse als aus Panik. »The Final Countdown« stampfte aus
dem Radio. Wie passend! Mäßige Karriere, immer noch kein Privatleben mit
Ehemann, Kindern und Eigenheim. Sie war zu alt, um noch Spitzensportlerin zu
werden. Beim Skifahren hatte sie bereits bei den Kreiscup-Rennen aufgehört,
obwohl sie Chancen gehabt hätte, in den C-Kader des DSV zu kommen. Die Vereinsstruktur war ihr schon mit
vierzehn zu strikt gewesen. Die Szene rund ums Snowboarden hätte ihr vielleicht
eher entsprochen, aber das war nach ihrer Zeit gekommen. Damen-Eishockey hätte
ihr gefallen, aber das hatte ihr Vater verboten!
Jetzt war sie zu alt
für sportliche Erfolge und zu alt, um Model zu werden, höchstens noch für »Lady
Fashion«. Nicht dass sie das gewollt hätte. Aber es kam ihr seltsam vor, dass
manche Dinge einfach definitiv vorbei waren. So ganz hatte sich Jo mit ihrem
neuen Lebensabschnitt noch nicht angefreundet.
Nach wie vor
verwunderte es Jo, wenn Menschen, die viel älter als sie waren, ihre Meinung
für überdenkenswert hielten. Es verblüffte sie, was sie
Weitere Kostenlose Bücher