Schussfahrt
wieder hoch.
»Wahrscheinlich
pressiert’s wirklich nicht mehr.« Jo versuchte, zu ihrer sonst üblichen Ironie
zu finden. »Da draußen sitzt einer ohne Schuhe, nur in Socken!«
Der Anwander Bauer
schaute erstaunt. »Frau Doktr Johanna? Ja meh, und?«
Jo riss sich
zusammen. »Der ist tot, glaub ich. Du solltest die Polizei anrufen.«
Der Bauer hatte Jo
noch immer fest umfasst und rief über den Hof: »Zenta, Zenta!«
Seine Frau in
Kittelschurz und einer viel zu großen Lammfellweste streckte den Kopf aus der
schweren Holztür. »Häh?«
»Bring dr Frau Doktr
an Obschtler und ruaf dia Polizei in Kempta a. Mir hend a Leich. Schick di, fei
glei sofort!«
Wenn der Anwander
Bauer »fei glei sofort« sagte, dann war’s ernst; »glei sofort« war schon
brenzlig, aber in der Verstärkung mit »fei« nun wirklich todernst!
Als das Polizeiauto
in den Hof gefahren kam, saß Jo in der Stube, hatte zwei Obstler getrunken und
begann langsam, wieder klar zu denken.
»Griaß eich
mitanand!« Polizeihauptkommissar Gerhard Weinzirl und sein junger Kollege,
Polizeiobermeister Markus Holzapfel, traten in den Raum. Gerhard nickte den
Anwanders zu und rutschte neben Jo auf die Eckbank unter dem Herrgottswinkel.
Er sah sie scharf an und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Mädel, was ist los?«
Jo blickte Gerhard
an und sagte leise: »Da draußen sitzt der Rümmele im Schnee, ohne Socken und so
… so blass.« Jo stockte und horchte dem Klang der Stimme nach. Jemand hatte
Rümmele gesagt. Sie selbst! Natürlich, sie hatte ihn von Anfang an erkannt. Das
war der Rümmele gewesen, aber so fahl, so reduziert – wo der große, feiste Mann
doch sonst immer so rote Backen, eine von feinen roten Äderchen durchzogene
Nase und flackernde dunkle Augen gehabt hatte!
Gerhard pfiff durch
die Zähne. »Du meinst Hans Joachim Rümmele, den Rümmele?«
Jo nickte. »Er war
so, er wirkte so, er …«
Gerhard verstärkte
den Druck seiner Hand. Es ging etwas Beruhigendes von ihm aus – eine
Eigenschaft, die ihm Jo früher nicht attestiert hätte.
Gerhard war der
Local Hero ihrer Jungmädchenträume gewesen, der geheimnisumwitterte Schwarm in
ihrer Stammdiskothek, dem »Pegasus«. Diese Diskothek in Kemptens Altstadt war
eine Institution für Jo gewesen, eine bessere Heimat als ihr Elternhaus. Hier
hatten alle ihre pubertierenden Freundinnen Zuflucht gefunden. Im ständigen
Reigen begegnete man sich, ging ein Stück gemeinsam, gehörte zu Cliquen mit
wechselnder Besetzung, verleumdete sich, hasste und liebte sich – und feierte.
Die endlosen Nächte
waren vielleicht gar nicht so spannend gewesen, und die Rauschgiftorgien, die
man dem »Pega« nachsagte, hatte es nie gegeben. Aber Jo hatte zum Zirkel der
Erlesenen gehört. Sie durfte an der Getränkeausgabe oder beim DJ stehen. Der Rock kurz, das Dekolleté
tief, ein Jungmädelvamp im Banne einer ebenso banalen wie aufregenden
Kleinstadt. Es waren Nächte mit ewig gleichen Ritualen gewesen. »Stairway to heaven«
lief als letztes Lied, und stets schickte Jo sehnsüchtige Blicke zu Gerhard
hinüber. Ob er sie noch zum »Kaffee« einladen würde? Acht von zehn Malen war er
schon weg, wenn das unbarmherzige Licht den Raum erleuchtete und Jo von ihren
Drehungen über die fast leere Tanzfläche wieder aufsah.
Nur manchmal hatte
er sich die Ehre gegeben und war als Liebhaber eigentlich keine Offenbarung
gewesen. Aber dieses Spiel von Kommen-Lassen und sich Entziehen, das
beherrschte er meisterlich. Außerdem waren Frauen für ihn wohl eher sekundär,
er hätte eine Bergtour mit seinen Kumpels jederzeit einer Nacht mit Jo
vorgezogen. Aber genau das machte ihn interessant. Selbst wenn Jo andere, feste
Freunde hatte und Gerhard immer erst sehr spät, plötzlich wie ein Spuk, in seinem
Trenchcoat und mit herrlich zerknittertem Gesicht, schlaksig und provokant
neben der Tanzfläche auftauchte, war es um Jo geschehen: Herzrasen! Stairway to
hell!
Etwas wie ein
unzertrennbares Band hatte zwischen ihnen existiert, und es hatte bis heute
gehalten. Die alten Cliquen hatten sich mittlerweile über die Welt verstreut.
Nur wenige der früheren Freunde waren aus dem Studienexil zurückgekommen: als
aufstrebende Junganwälte, Mediziner oder Journalisten. Man sah sich selten. Jo
war so viel unterwegs, dass sie am Abend oft nur noch todmüde aufs Sofa sank.
Gerhard ging es ganz ähnlich. Für Jo war Gerhard ein Rettungsanker aus einer
Zeit, die weder besser noch einfacher gewesen war, aber eine Zeit, die
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