Schussfahrt
ich
das nicht. Aber der Kontrast von Kreszenzia Obermeier zu Ihrer Mama My ist
etwas überraschend. Wieso eigentlich Mama My?«
»Sehen Sie, sie
flüchtete 1979 aus Vietnam. Eine der tragischen Geschichten. Sie stammt aus der
Oberschicht, war Schriftstellerin und hat für Zeitungen gearbeitet. Die Familie
war begütert, der Großvater war Schulleiter. Dann kamen die Kommunisten und
haben alles enteignet. Es kam zu Verhaftungen, Folterungen, die ganze Palette
des Grauens. Sie konnte flüchten, aber ihr Mann war krank, und sie hatte fünf
kleine Kinder dabei. Deshalb Mama My. Wissen Sie, ich stelle es mir neben der
ganzen wirtschaftlichen und körperlichen Pein auch psychisch sehr schwer vor,
sich als Intellektuelle mit einem China-Restaurant hochzudienen.« Jo brach ab.
Volker Reiber rührte
weiter in seinem Tee.
Jo fuhr fort: »Ich
bewundere sie sehr und freue mich wahnsinnig darüber, dass ihre Kinder so gut
geraten sind. Ein Sohn schreibt jetzt seine Doktorarbeit in politischen
Wissenschaften. Er hat ein dreijähriges Stipendium für Peking bekommen. Jetzt
muss er Chinesisch lernen. Allgäuerisch kann er besser. Sie sehen, hier
schließt sich der Kreis.«
»Ja eben, und das
ist doch ein ungewöhnlicher Kontrast«, sagte Reiber.
»Ja und nein,
eigentlich ist der Unterschied nur einer der Sprache und der Kulturen. Keiner
des Herzens. Beide sind Frauen, die es schwer hatten und einfach immer getan
haben, was eben getan werden musste. Ohne zu klagen, ohne zu hadern.« Jo war
sich nicht sicher, ob das Gespräch nun nicht zu sehr in privaten Bahnen verlief.
Reiber rührte noch
immer in seinem Tee und sah dann hoch. »Sie überraschen mich wirklich, Frau
Doktor Kennerknecht.«
»Weil ich denke?
Fühle? Wir sind weder dumpfe Bauern noch superschnelle High-Tech-Städter. Wir
essen an einem Tag Bergkäse und am anderen Tofu in Currysoße. Glauben Sie mir,
Herr Reiber. Hier reimt sich vieles, was anderswo kein Gedicht mehr ergäbe.«
Beide lauschten den
Worten hinterher, bis Volker Reiber sagte: »Ein schöner Satz.«
Bot er einen
Waffenstillstand an? Jo versuchte zumindest jetzt, sich jeglicher Ironie zu
enthalten.
»Also diese
Bodengeschichte. Ich bin da keine Fachfrau. Sie wissen ja, der Sozial-Doktor« –
oh weh, so ganz klappte das nicht mit der Selbstbeschränkung in Sachen Ironie –
»aber ich habe in meiner Zeit als Journalistin mal intensiver recherchiert. Es
ist so, dass es Böden gibt, die eigentlich ganz gut aussehen. Knapp unter der
Grasnarbe liegt aber eine wasserundurchlässige Lette, und darunter ist purer
Moorboden. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wurden solche Böden drainiert,
und zwar mittels Tonröhren. Der Ton saugt das Wasser auf, leitet es ins Innere
ab, und dann läuft das Wasser ab.«
Volker Reiber hatte
aufmerksam zugehört. »Ja, aber darüber muss es doch Unterlagen geben?«
»Schon, die liegen
beim Wasserwirtschaftsamt. Aber es gab auch Bauern, die Böden schwarz drainiert
haben. Und das Interessante daran ist, dass der Ausfluss weit außerhalb des
Grundstücks liegen konnte und kann. Wenn man sich da noch ein Jahrhundert mit
Kriegsverkäufen und Zerstückelungen vorstellt und an die Flurbereinigung denkt,
dann kann es gut sein, dass ein Bauer einen schwarz drainierten Boden gekauft
hat und wirklich nichts davon weiß.«
»So, und bei dem
Boden, den Rümmele gekauft hat und weiterverkauft, war das der Fall?«
»Das weiß ich nicht,
aber vorstellbar ist es schon. Rümmele hat den Boden samt des alten, leer
stehenden Bauernhofs von Schorschs Mutter gekauft. Die lebt in Australien. Ist
abgehauen, als Schorsch zehn war, und hat ihn bei der Oma gelassen. Sie hat den
Grund auf Kreszenzia übertragen, und bei jedem Weiterverkauf sollte die
Bedingung bestehen, dass ihre Schwiegermutter, also Kreszenzia, im
Austragshäusl bleiben kann. Ich bezweifle, dass Schorschs Mutter Kenntnis über
den Zustand ihrer Wiesen hatte. Sie war keine Bäuerin aus Leib und Seele, sie
hat Schorschs Vater zwar geheiratet, aber sich nie für die Landwirtschaft
interessiert. Schorschs Vater starb bei einem Traktorunglück, ein halbes Jahr
später war Schorschs Mutter weg.«
»Aber die Kreszenzia
wusste noch davon?« Reiber schien richtig gespannt zu sein.
»Davon gehe ich aus.
Sie ist Jahrgang 1912!«
»Faszinierend«,
sagte Reiber und meinte es wohl aufrichtig. »Ganz schön rege, die alte Dame.
Und was bedeutet das nun für das Bauwesen?«
»Da müssen Sie
jemanden fragen, der Ahnung von Tiefbau hat.
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