Schusslinie
dazu den Vornamen: ›Edgar‹. Unter ›Besonderheiten‹ stand zu lesen:
›Mag’s zärtlich, trinkt viel Sekt, redet viel‹.
Anna hatte auf einmal das Gesicht wieder vor
sich. Wohnt irgendwo im Remstal, fiel ihr ein. Sie steckte das Notizbuch in die
Bettwäsche zurück. Es blieb ihr sogar noch Zeit, die Post durchzuschauen. Ein Werbeprospekt
eines Göppinger Möbelhauses war darunter, die Rechnung der Telekom und ein handschriftlich
an sie adressierter Brief ohne Absender. Sie riss ihn hastig auf und zerfledderte
dabei das Kuvert. Es enthielt ein zusammengefaltetes kariertes DIN-A-4-Blatt, das
hastig von einem Block gerissen schien. Anna stutzte, als sie die krakeligen Druckbuchstaben
sah:
»Pass auf du kleine Nutte. Aktenkoffer Lanski.
Letzte Warnung: Inhalt Samstag, 11. Juni, Autobahnparkplatz Urweltfunde A 8 Aichelberg
Richtung Stuttgart in Papierkorb nah WC-Haus stecken. 23 Uhr. Sofort verschwinden.
Sonst tot.«
Anna spürte, wie ihr Blut aus allen Gliedern
wich. Sie las den Text ein zweites Mal und begann zu zittern. Beinahe hätte sie
den Gong an der Wohnungstür überhört. Sie war jetzt überhaupt nicht mehr in Stimmung.
Der Abgeordnete Riegert, der seine Rückkehr nach Berlin vorläufig verschoben
hatte, war von dem gestrigen Fußballspiel gegen Russland begeistert gewesen, obwohl
letztlich nur ein 2:2-Unentschieden dabei herausgekommen war. Doch so richtig drauf
konzentrieren hatte er sich nicht können. Ihm gingen Heimerle und Funke nicht mehr
aus dem Kopf. Die beiden waren mit Sicherheit seinetwegen umgebracht worden. Bisher
hatte er weder mit seiner Frau, noch mit jemand anders über diesen Verdacht geredet.
Je länger er aber darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass der Schlüssel
zu allem eben diese beiden Männer waren – und Lanski.
Woher aber konnte ein möglicher Mörder so sicher
sein, dass Heimerle und Funke etwas wussten, das irgendjemandem gefährlich sein
würde?
Riegert zermarterte sich das Gehirn, als er
nach einer geradezu winterlichen Nacht, die ein Minimum von 2,2 Grad beschert hatte,
durch den kühlen Schlater Wald wanderte, der an seinen Wohnort angrenzte. Die Luft
war feucht, es roch modrig. Von der Straße her drangen Fahrzeuggeräusche auf den
schmalen Pfad herüber. Riegert spürte die Hektik der vergangenen Tage. Dort in Berlin
die Anspannung vor der Vertrauensfrage, die Bundeskanzler Schröder für den 1. Juli
angekündigt hatte, hier im Wahlkreis diese schrecklichen Morde. Er versuchte, sich
auf das Wesentliche zu konzentrieren – und dies war die bohrende Frage, ob er hätte
vielleicht das Verbrechen an Heimerle und Funke verhindern können. Natürlich war
es möglich, dass die beiden Männer noch weitere Personen in ihr Vertrauen gezogen
hatten. Andererseits aber war dies eher unwahrscheinlich, hatten sie doch allein
schon bei dem Telefongespräch mit ihm allerhöchste Vorsicht walten lassen. Es musste
also eine andere undichte Stelle geben. Wurden Telefone abgehört? Dies war, das
wusste er, heutzutage zwar fast problemloser möglich, als noch zu seinen Zeiten
als aktiver Polizist. Ein einzelner Täter jedoch verfügte wohl kaum über das nötige
Know-how und die Technik, um sich heimlich einklinken zu können. Wenn, dann konnte
nur eine ganze Organisation oder Bande dahinter stecken.
Noch einmal ließ er die vergangenen Tage seit
dem Anruf von Heimerle Revue passieren. Was war seither geschehen? Er ging jetzt
schneller. Denn diese Frische tat ihm gut.
Als er fast den ganzen Wald durchquert hatte
und auf einen Fußballplatz traf, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Klar. Eva.
Eva Campe. Die Frau aus dem Wirtschaftsministerium, die seit geraumer Zeit ein seltsames
Interesse für seine Arbeit und am Sport bekundet hatte. Wie war das nochmal beim
letzten mittäglichen Treffen gewesen? Riegert verlangsamte seinen Schritt wieder,
nahm aber den Sportplatz und die Straße, die jetzt links von ihm verlief, überhaupt
nicht wahr. Viel zu sehr waren seine Gedanken damit beschäftigt, die Worte dieser
Blondine in Erinnerung zu rufen. Vor allem aber, was er selbst gesagt hatte. Sie
war richtig zudringlich geworden, dachte er und machte sich auf den Rückweg. Sie
hatte doch tatsächlich unbedingt wissen wollen, weshalb er früher nach Hause fliegen
musste. Nur – hatte er da gesagt, warum? Riegert hätte sich in diesem Moment selbst
ohrfeigen können. Wie man sich doch einwickeln ließ als Mann! Natürlich, jetzt erinnerte
er sich ganz deutlich. Diese Eva
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