Schusslinie
er plötzlich die Stimme seiner Frau: »Martin – was ist denn?«
Er nahm sie nicht zur Kenntnis. Sich vorsichtig
umblickend, ging er auf dem mit Steinplatten ausgelegten Weg ums Haus, vorbei an
den Stauden blühender Sommerblumen, bis zur Rückseite. Kabel tot, hämmerte es ihm
durch den Kopf. Dann hatte er die Gewissheit: Dort, wo das Breitbandkabel fürs Fernsehen
aus dem Erdreich kam und nur einen halben Meter weit freiliegend in einen Kellerlichtschacht
geführt wurde, hatte es jemand abgezwickt. Die beiden Enden der Schnittstelle waren
nur ein paar Zentimeter seitlich verschoben.
Ihn überkam ein eiskalter Schauer, obwohl in
seinem Kopf das Blut bedrohlich pochte.
Zwei zu drei. Keine Schande, befand Fußball-Deutschland. Gegen Brasilien
zu verlieren, dazu noch denkbar knapp, und ein Jahr, nachdem niemand mehr mit der
deutschen Nationalelf gerechnet hätte, war das sogar eher eine beachtliche Leistung,
die immerhin die Teilnahme am Spiel um den dritten Platz gesichert hatte – und zwar
gegen Mexiko. Auch der Abgeordnete Klaus Riegert war dieser Meinung. Er konnte überhaupt
mit dieser Woche zufrieden sein. Am Montag hatten ihn seine Parteifreunde im Wahlkreis
mit hundert Prozent der Stimmen wieder zum Kandidaten für die Bundestagswahl im
September gekürt, sofern sie denn stattfand, denn zuvor musste Kanzler Schröder
die angekündigte Vertrauensfrage verlieren. Dieses Vorgehen, für nächsten Freitag
geplant, schien aber nur eine Formsache zu sein – ein abgekartetes Spiel, das letztlich
dann auch noch das Bundesverfassungsgericht absegnen musste. Trotz all dieser Hürden
hatten sich aber die Parteien bereits auf den Wahlkampf vorbereitet. Die Zeit drängte,
denn schließlich lagen die Sommerferien dazwischen.
Riegert war inzwischen viel länger, als ursprünglich
geplant, auf Heimaturlaub geblieben. In den nächsten Tagen aber würde er nach Berlin
zurückfliegen, um rechtzeitig vor der Vertrauensfrage die Stimmung in der Hauptstadt
aufnehmen zu können.
Er konnte sich auch nicht mehr länger mit den
Verbrechen befassen, so gerne er dies als gelernter Kriminalist getan hätte. Aber
seit er alles, was er wusste, was ihn bedrückte und ihm zu bedenken gab, dem Kommissar
Häberle berichtet hatte, fühlte er sich aus der Verantwortung genommen. Er konnte
unmöglich weiterhin eigene Recherchen anstellen. Zum einen fehlte ihm jetzt die
Zeit dafür und zum anderen würde er sich und seine Familie in große Gefahr bringen,
wie die Begegnung mit den beiden Südosteuropäern bei Ravensburg gezeigt hatte.
Riegert verdrängte den Gedanken, er könnte
sich mit seiner Aussage den Zorn dieser Männer zugezogen haben. Woher sollten sie
auch wissen, dass er sich nicht hatte einschüchtern lassen? Außerdem, so dachte
er, wäre es ziemlich kühn, einen Abgeordneten dieser Republik zu attackieren. Das
würde immerhin weite politische Kreise ziehen und wäre nicht so ohne weiteres unter
den Teppich zu kehren.
An diesem Sonntagabend genoss er die herrlich
laue Sommerluft, als er in leichter Jogging-Kleidung seine Lieblingsroute absolvierte
– von seinem Wohnort Süßen hinauf zum Schlater Wald und auf dem gleichen Weg zurück,
vor sich dann die drei Kaiserberge, den Hohenstaufen, den Rechberg und den Stuifen.
Zwar bot auch Berlin mit dem Grunewald und dem Tiergarten, den ausgedehnten Grünflächen
entlang der Spree und dem Wannsee herrliche Möglichkeiten, die Natur zu genießen,
doch die heimische Schwäbische Alb hatte für Riegert ihren ganz besonderen Reiz.
Er trabte an den Wanderparkplätzen vorbei,
die noch nahezu ganz belegt waren – mit Autos aus dem gesamten Großraum Stuttgart.
Vorhin, auf dem großen Parkplatz inmitten des riesigen Waldgebiets, war ihm sogar
ein schwarzer Golf mit Hamburger Nummer aufgefallen. Dieses Kennzeichen hatte in
ihm eine unangenehme Erinnerung geweckt. Und er fragte sich, was ein Hamburger hier
inmitten des Schwabenlandes auf einem Parkplatz zu suchen hatte. Oder war es wieder
ein gemieteter Wagen von Europcar? Für einen Moment stutzte er, doch waren die aufkommenden
Ängste sofort verdrängt, als er in den Waldweg einbog, der ihn an einer Schutzhütte
vorbeiführen würde.
Als er allein dahin joggte und die Schweißperlen
von der Stirn rinnen spürte, überlegte er, wo die Menschen wohl sein würden, die
mit den hier geparkten Autos gekommen waren. Vermutlich hatten sie ausgedehnte Wanderungen
unternommen, waren zum beliebten Wasserberghaus des Schwäbischen Albvereins
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