Schusslinie
hinaufgestiegen
oder auf dem Weg zu dem großen Teich, der sich inmitten des Waldgebiets zu einem
Paradies für Amphibien entwickelt hatte.
Riegert erkannte im Schatten des Hochwalds
bereits von Weitem die Schutzhütte. Hier war ihm fast jeder Baum, zumindest aber
jede Weggabelung vertraut. Oft genug hatte er in diesem Wald seine Runden gedreht,
die ihm die Kraft gaben für die stressigen Sitzungswochen in Berlin, wenn es an
Bewegung mangelte und ein üppiges Arbeitsessen das andere jagte.
Das Zwitschern von Vögeln lag in der Luft,
irgendwo krähte ein vorwitziger Rabe. Als sich der Mann diesem verwitterten Blockhaus
näherte, das als Schutzhütte an einer Wegkreuzung stand, glaubte er, in diesem schwarzen
Innern eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Ein Liebespaar, dachte er. Ideal zum
Kuscheln. Aber vielleicht zu dieser abendlichen Zeit noch ein bisschen zu früh.
Er trabte auf die Hütte zu, worauf sich die
Konturen im Innern langsam abzuzeichnen begannen. Tatsächlich, da war eine Person.
Dunkle Hose, helles T-Shirt. Aber keine zweite. Ein Mann, aber kein Mädchen. Vermutlich
auch ein Jogger, der sich ausruhte. Der Abgeordnete folgte dem Weg auf die Hütte
zu, um dann, wie gewohnt, links abzubiegen. Er hatte gerade vier, fünf Schritte
getan, als eine Stimme die Waldstille zerriss. »Riegert«, schallte es hart und mit
südosteuropäischem Akzent aus der Hütte heraus, »stehen bleiben. Sofort.«
47
Anna hatte sich für den Gast ganz besonders fein gemacht. Immer, wenn
er sie zu sehen wünschte, was meist am Sonntagabend war, wie sie ihren Aufzeichnungen
entnahm, musste die Jagdhütte am Rande der Schwäbischen Alb besonders stilvoll und
gepflegt sein. Sie parkte ihren Wagen hinter der hohen Buchenhecke, stieg aus und
war mit wenigen Schritten ihrer hochhakigen Stiefel an der Tür, schloss sie auf
und ließ den Mann ein. Der hatte während der Fahrt hierher stets darauf geachtet,
dass er sein Gesicht vor den wenigen Wanderern verbarg, denen sie unterwegs begegneten.
Als Anna die Eingangstür hinter ihnen ins Schloss zog und im Dämmerlicht, das durch
die Fensterläden fiel, eine Kerze entzündete, atmete der Mann auf. Jetzt waren sie
unter sich. Jetzt brauchte er keine Angst mehr zu haben, erkannt oder entdeckt zu
werden. Er sah im Gesicht der jungen Frau dieses verführerische Lächeln, das ihn
vom ersten Tag an fasziniert hatte. »Du bist absolut scharf«, sagte der Mann heiser,
der im flackernden Kerzenlicht nur schemenhaft zu erkennen war. »Du bist irre. »
»Und du erst …«, sagte sie mit ihrem harten Akzent.
»Also, auf unser Wiedersehen, hier und heute«,
hörte sie seine Stimme. Sie stießen an und nahmen einen Schluck.
Der Mann räusperte sich, stellte sein Glas
auf den Tisch und rückte seinen Stuhl näher an Anna heran. Er streichelte ihr mit
einer Hand über das Haar und berührte mit der anderen ihre schlanken nackten Schenkel,
die das Kleidchen großzügig freigab.
»Du bist die aufregendste Frau, die ich je
kennen gelernt habe«, sagte er mit tiefer Stimme. »Weißt du, was ich mir wünsche?«
»Dass du sofort mit mir schlafen darfst«, antwortete
sie keck.
»Falsch«, entgegnete er, »ich würde mir wünschen,
dass du eines Tages nur für mich da sein könntest.«
Sie zog ihre Beine zu sich her und drückte
die Knie aneinander. Seine Hand blieb zwischen ihren warmen Schenkeln.
Sie schwieg.
»Was glaubst du«, fuhr er fort, »wie ein Leben
mit uns aufregend sein könnte. Wir beide – immer zusammen.« Er kam ihr noch näher
und drückte ihr einen Kuss auf den Mund.
»Vielleicht schaffen wir es, wenn alles vorbei
ist«, erwiderte sie.
»Alles vorbei?«, fragte er vorsichtig und streichelte
ihre Schenkel.
»Du weißt genau, wie schwierig im Moment alles
ist.«
Er zog ihren Kopf zärtlich ganz dicht an seinen
heran und roch ihr herbes Parfüm, das ihm längst vertraut war. »Womöglich kommt
der Augenblick und es muss alles schnell gehen.«
»Schnell gehen?« Sie wirkte kühl. Viel zu kühl,
wie er befand.
»Ich meine, dass wir verschwinden müssen … und dann nehm ich dich mit. Wenn du willst.«
Sie sagte wieder nichts. Er war enttäuscht.
48
Riegert blieb augenblicklich stehen und starrte in das Schwarz der
Schutzhütte, wo sich jetzt ein hünenhafter Mann abzuzeichnen begann. Der Unbekannte
stand zwei, drei Schritte hinterm Eingang, sodass sein Gesicht im Halbdunkel blieb.
»Hab doch gesagt, sollst Schnauze halten«,
zischte seine Stimme gefährlich scharf –
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