Schusslinie
Rätsel.
Da draußen in der äußersten Provinz hatte man als Fremdling keine Chance, längere
Zeit herumzuschnüffeln, ohne sich verdächtig zu machen. Aber er würde sich umhören,
in Kneipen, vielleicht auch im Vereinsheim des SC Geislingen, wo Klinsmanns Verschwinden
mit Sicherheit das Gesprächsthema Nummer eins sein würde.
Noch im Taxi schossen Liebenstein tausend Gedanken
durch den Kopf. Zuerst Nullenbruch, dann Klinsmann? Welchen Sinn machte dies? Und
weshalb liefen die Fäden ausgerechnet in diesem Nest an der Schwäbischen Alb zusammen?
Klar, möglicherweise hatte Klinsmann den Besuch des Confederations-Cup-Endspiels
zum Anlass genommen, sozusagen inkognito einen Abstecher zu seinen alten Freunden
zu machen. Dass der Tod seines alten Kumpels Leonhard Lanski eine Rolle spielen
konnte, lag auf der Hand. Liebenstein sah die Orte an sich vorbeiziehen, ohne sie
bewusst zu registrieren. Dann fielen ihm die Akten ein, die noch immer nicht aufgetaucht
waren. Hatten sie etwas mit Klinsmanns Verschwinden zu tun? Er verdrängte den Gedanken,
der Bundestrainer könnte selbst abgetaucht sein. Das würde nach all den Erfolgen
der letzten Wochen und Monate keinen Sinn machen. Klinsmann stand vor dem Höhepunkt
seiner Karriere, ein optimistischer Mensch, den bisher nichts hatte erschüttern
können. Nein, dachte Liebenstein, so einer wirft nicht einfach das Handtuch und
verschwindet. Schon gar nicht, wenn man Familie hat. Liebenstein hatte auf einmal
Debbie vor sich, diese attraktive Amerikanerin, mit der Klinsmann verheiratet war.
»Wohin?«, fragte der Taxifahrer, als sie den
zähflüssigen Verkehr am Geislinger Ortsrand erreicht hatten. Liebenstein wurde aus
den Gedanken gerissen. Er kannte sich hier auch nicht aus. »Ins Zentrum«, entschied
er. Der Chauffeur nickte wortlos, während sich bei seinem Fahrgast das Handy meldete.
Liebenstein fingerte es aus dem beigen Sommerjackett und meldete sich. Es rauschte
und knackte, dann eine harte Stimme: »Liebenstein – sind Sie das?«
»Ja«, erwiderte der Angesprochene.
»Passen Sie auf, Liebenstein«, sprach ein Mann
mit eindeutig osteuropäischem Akzent, »wir haben ihn – Klinsmann.«
Liebenstein war mit einem Schlag wieder voll
konzentriert. »Bitte – was?«, entfuhr es ihm. Er war viel zu überrascht, als dass
er mehr hätte sagen können.
»Klinsmann«, kam es zurück, »wir haben ihn.
Und zwar so lange, bis Ihr kapiert, dass wir es ernst meinen.« Aus. Die Leitung
war tot.
57
So etwas hatte diese Kleinstadt noch nie erlebt. Das Heer der Journalisten
war gewaltig. Das Parkhaus, das dem Kapellmühlsaal zugeordnet ist, musste wegen
Überfüllung geschlossen werden. Rein vorsorglich hatte der Leiter des Ordnungsamtes,
Paul Thierer, einen Teil der Fußgängerzone vor dem Veranstaltungsraum absperren
und für die Übertragungsfahrzeuge der Fernsehstationen reservieren lassen. Deren
Satelliten-Funkantennen wurden auf einen imaginären Punkt am Himmel ausgerichtet,
der sich knapp über den Bergen der Albkante befinden musste. ARD und ZDF wollten
die Pressekonferenz zum Verschwinden Klinsmanns live übertragen, ebenso n-tv und
N24. RTL und Sat1 schickten Aufnahmeteams und recherchierten bereits eifrig in der
Stadt, um die fußballerische Jugend des Bundestrainers zu beleuchten. Ein Heer von
Rundfunkreportern hielt Passanten Mikrofone unter die Nase. Fotografen bevölkerten
die Innenstadt, dazu viele Dutzend Journalisten von Agenturen und Zeitungen. Die
meisten Medienvertreter stellten sich auf einen längeren Aufenthalt ein, weshalb
in den Hotels so gut wie kein Zimmer mehr zu kriegen war.
Im Kapellmühlsaal, in dem normalerweise der
Gemeinderat tagte oder Kleinkunst-Aufführungen stattfanden, installierten Techniker
Mikrofone und Scheinwerfer, brachten Kameras in Stellung und verlegten immer neue
Kabel. Der Hausmeister verfolgte mit Sorge, was innerhalb kürzester Zeit aus dem
Veranstaltungsraum geworden war.
Ein Rundfunkreporter von SWR 3 stand vor dem
Gebäude und sprach aufgeregt in sein Mikrofon und schilderte seinen Hörern die Situation
in Geislingen. Inzwischen war das Büro- und Kulturhaus von gut hundert Schaulustigen
belagert. Drinnen im Saal reichten die Sitzplätze nicht aus, sodass mehrere Dutzend
Journalisten stehen mussten.
Auf die kleine Bühne war ein Tisch gestellt
worden, auf dem Namensschilder die Sitzplätze wiesen: Links der Leitende Oberstaatsanwalt
Dr. Wolfgang Ziegler, in der Mitte Kripo-Chef Helmut Bruhn, rechts Pressesprecher
Uli
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