Schusslinie
seinen Schreibtischstuhl
zurück. »Tut mir leid, aber da muss ich Ihnen widersprechen.« Er zögerte absichtlich,
weil er die Wirkung dieses Satzes auf Bruhn ganz bewusst genießen wollte. Dies hatte
der oberste Kripochef nämlich längst aus seinem Wortschatz gestrichen, insbesondere,
wenn es aus dem Munde von Mitarbeitern kam.
Und tatsächlich. Nach einer Sekunde der Sprachlosigkeit
dröhnte es im Hörer: »Was heißt da Widerspruch? Wer hat hier das Sagen – Sie oder
ich? Wer hat das alles zu verantworten – diese sinnlosen Ermittlungen? Reise nach
Košice, Reise nach Berlin – und Ihre ebenso sinnlose Anwesenheit beim Zugriff dort
unten?«
Häberle hob den Hörer einige Zentimeter vom
Ohr weg.
»Sind Sie noch da?«, donnerte Bruhns Stimme
durch die Leitung.
»Natürlich – ich höre«, bestätigte Häberle
knapp.
»Wir können nicht bis zum Sankt Nimmerleinstag
alle Kräfte an diesen Fall binden. Ziehen Sie diese Hexe aus dem Verkehr!«, forderte
Bruhn und meinte Ute Siller.
»Wenn Sie eine Bemerkung gestatten«, wandte
Häberle ein, als sein Chef Luft holen musste, »ich erbitte Aufschub bis zum 23.
September.«
»Bis zum …« Bruhn schnaubte, »… 23. September. Das sind … das sind …« Er schien rasch im Kalender zu blättern, »… das sind rund acht
Wochen.«
»Richtig«, bestätigte Häberle, »ich versprech
Ihnen, wenn es uns gelingt, so lange stillzuhalten – wirklich stillzuhalten, dann
präsentier ich Ihnen eine Lösung, an die weder Sie noch die Weltöffentlichkeit gedacht
hätte.«
Bruhn atmete schwer. »Die Weltöffentlichkeit?«,
wiederholte er ungläubig.
»Ja«, bestätigte Häberle, »es sei denn, die
Weltöffentlichkeit soll es gar nicht erfahren.«
Bruhn erwiderte nichts mehr.
69
Der Schlüssel passte. Frau Nullenbruch hatte mit ihrer Befürchtung
Recht gehabt. Anna schien die Jagdhütte an der Albkante als ein exklusives Liebesnest
für ebenso exklusive Kunden benutzt zu haben. Linkohr hatte den Kripo-Mercedes über
einen regennassen Forstweg gesteuert, während Häberle von den idyllisch gelegenen
Grundstücken hier angetan war. Kein Wanderpfad führte vorbei, stellte er fest und
blickte weit auf die bewaldeten Hänge des Voralbgebiets hinaus, sah in der Ferne
den Hohenstaufen und die beiden anderen so genannten Kaiserberge Rechberg und Stuifen.
Die Jagdhütte war eigentlich ein Blockhaus,
das von allen Seiten dicht mit Hecken und Stauden verdeckt wurde. Linkohr parkte
den Wagen in der Zufahrt. Äste hingen unter der Wasserlast des Regens weit herab,
sodass die beiden Männer in geduckter Haltung zur Haustür eilten. Linkohr drehte
den Schlüssel im Schloss und stieß die Tür nach innen auf. Feuchtwarme Luft schlug
ihnen entgegen, gemischt mit kaltem Zigarettenqualm. Weil die Fensterläden geschlossen
waren, fiel das Tageslicht nur durch die Tür herein. Linkohr schwenkte sie deshalb
ganz auf und brachte sie in eine stabile Position. Die beiden Kriminalisten betraten
den mit Teppichen ausgelegten Raum, der von einer großen, offenbar auseinander geklappten
roten Couch beherrscht wurde, auf der ziemlich ungeordnet Kissen und Decken lagen.
An der Giebelseite stand, umgeben von einer Eckbank, ein wuchtiger Tisch, über dem
eine Öllampe hing. Die gegenüberliegende Seite füllte ein großer Holzofen aus.
»Ganz schön gemütlich hier«, meinte der Chef-Ermittler.
Im spärlichen Tageslicht streifte sein Blick Regale mit Gläsern und Büchern. Linkohr
öffnete eine Tür, die in den Nebenraum führte. Obwohl auch hier keine Helligkeit
eindringen konnte, erkannte er sofort, dass es eine kleine Küche war – mit Gasherd,
diversen Schränken und einem Waschbecken. Für einen Moment dachte der junge Kriminalist
darüber nach, wie dies wohl hier oben mit der Wasserversorgung funktionierte. Als
er wieder in den Wohn- und Schlafraum zurückkehrte, von dem aus eine weitere Tür
abzweigte, hinter der sich die Toilette verbarg, hielt Häberle triumphierend einen
aufgeklappten leeren Aktenkoffer in der Hand. »Wo haben Sie denn den her?«, staunte
Linkohr.
»Hier«, der Kommissar deutete auf einen Spalt,
der sich zwischen Eckbank und Wand auftat, »… und so, wie er uns beschrieben wurde,
gehörte er Lanski.«
Die Sonderkommission war auf sieben Personen reduziert worden. Das
Interesse der Medien sank spätestens mit dem Beginn der Sommerferien in Baden-Württemberg
auf den Nullpunkt. Wenn überhaupt noch ein Journalist kritische Fragen stellte,
dann Georg Sander von der
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