Schusslinie
›Geislinger Zeitung‹. Nachdem auch Polizei-Pressesprecher
Uli Stock längst die Nase voll hatte, was diesen Fall anbelangte, hatten sich Häberle
und Sander bereits einige Mal zum Mittagessen verabredet, um ihre Erkenntnisse auszutauschen
– ohne dass davon natürlich etwas in der Zeitung stand. Sander hatte gehofft, im
Rahmen des Falles wenigstens einmal mit Klinsmann zusammenzutreffen. Der aber wurde
von seinen ehemaligen Kumpels und seinem Geschäftspartner aus einem gemeinsamen
Sportgeschäft strenger abgeschottet, als es der Papst demnächst beim Kölner Weltjugendtag
sein würde.
Häberle bat den Lokaljournalisten, die mysteriösen
Mordfälle von Ende Mai nicht wieder aufzukochen, sondern stillzuhalten. »Ich sag
Ihnen«, versprach der Kommissar bei einem Weizenbier auf der Terrasse des Gasthauses
›Zur Stadt‹, »Sie werden noch sehr viel zu berichten kriegen. Wenn das auffliegt,
was ich vermute, Herr Sander, dann ist das eine größere Sensation als es Klinsmanns
Entführung war.«
Sander schluckte und sah Häberle fragend an.
Der aber blieb hart: »Ich kann Ihnen bei aller Freundschaft jetzt noch nichts sagen.«
»Und wann glauben Sie, wird es soweit sein?«
»Nach der Bundestagswahl – sofern sie denn
stattfinden darf.« Zwar hatte inzwischen Bundespräsident Horst Köhler Schröders
verlorene Vertrauensfrage akzeptiert, doch war nun das Bundesverfassungsgericht
gefragt. Zwei Bundestagsabgeordnete hatten dieses Gericht angerufen, weil sie der
Meinung waren, die Vertrauensfrage sei nicht echt, sondern fingiert gewesen, um
Neuwahlen zu ermöglichen.
Der Sommer, der keiner war, lag tageweise wie ein November überm Land.
Kurze sonnige Abschnitte wechselten in rasantem Tempo mit Stürmen und ergiebigen
Niederschlägen. Häberle sehnte sich nach dem Tessin, nach Lugano oder dem Lago Maggiore.
Er war maßlos traurig, dass der Urlaub verschoben werden musste. Susanne und er
hatten wieder mal ein Wohnmobil mieten und in den Süden fahren wollen. Doch angesichts
des Falles, der sich erst nach der Bundestagswahl zuspitzen würde, konnte er es
sich nicht leisten, zwei, drei Wochen abwesend zu sein. Sie beschlossen deshalb,
Ende September wenigstens noch nach Südtirol zu fahren. Bei Bozen, genauer gesagt:
Südlich davon in Leifers, gab es einen Campingplatz, auf dem oftmals zwar unangenehme
Enge herrschte, dafür aber war das Klima dort um diese Jahreszeit noch sommerlich.
Und außerdem gab es auf dem an die Weingärten angrenzenden Campingplatz sowohl ein
Freibad als auch ein überdachtes Schwimmbecken und, was er als äußerst erfreulich
empfand, ein Restaurant, in dem vorzügliche Bratkartoffeln serviert wurden.
Mitte August, als Häberles Lieblingsfußballtrainer
Klinsmann mit seiner Mannschaft gegen die Niederlande 2:2 spielte, entschied Bruhn,
die Sonderkommission in Geislingen aufzulösen. Die verbliebenen Kollegen zeigten
sich darüber verwundert, ließen sich aber von Häberle beruhigen. »Was wir tun müssen,
können wir auch von Göppingen aus erledigen.«
Linkohr, der der Geislinger Kriminalaußenstelle
zugeteilt war, bedauerte diese Anordnung des obersten Chefs zutiefst. Er hatte die
Zusammenarbeit mit Häberle als äußerst angenehm empfunden. Und obwohl der Fall jetzt
zweieinhalb Monate intensivste Arbeit bedeutet und ihm kaum freie Zeit gelassen
hatte, geschweige denn für Juliane, wollte er keinen einzigen Tag missen.
»Dieser dreiundzwanzigste September«, vergewisserte
er sich, als Häberle seine Akten zusammenpackte, »davon versprechen Sie sich viel.«
»Alles«, erwiderte der Kommissar spontan, »wir
werden rechtzeitig eine Lagebesprechung machen. Und Sie sind dabei«, fügte er hinzu.
»Noch eine Frage«, wagte Linkohr an diesem
kühlen August-Vormittag einen weiteren Vorstoß, »wir haben bisher nicht über die
DNA-Analysen gesprochen … diese Kontaktlinse
bei Anna. Und diese eine Probe, die Sie noch nachgereicht haben …«
Häberle hielt beim Verpacken einiger Schnellhefter
inne. Dann verzog er das Gericht zu einem Grinsen. »Nicht gesprochen?«, wiederholte
er ungläubig, »Sie haben doch den Bericht gelesen. Man hat verwertbares Material
sichergestellt – das haben die Kollegen geschrieben.«
»Und dieses andere Material, das Sie zur Analyse
nachgereicht haben? Bei den Akten findet sich kein Ergebnis.«
Häberle hielt wieder inne. Er grinste. »Kein
Ergebnis?«, fragte er mit gespielter Empörung. »Das wäre aber ein böser Lapsus.«
70
Seit Häberle mit
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