Schusslinie
aber die Kälte, die durch sein dünnes Jackett
kroch. Er wollte zu Fuß zu seinem Gesprächstermin am Potsdamer Platz gehen. Den
Weg dorthin kannte er von früheren Besuchen. Er nahm sogar einen kleinen Umweg in
Kauf, um an der Siegessäule vorbeizukommen und ab dort, parallel zur ›Straße des
17. Juni‹, durch den prächtigen Wald des ›Tiergartens‹ zu gehen. Die Luft roch frisch
und feucht, das zarte Grün der Bäume schien nach Sonne zu lechzen. Als das Brandenburger
Tor auftauchte, hielt er sich rechts – hinüber zum geschäftigen Potsdamer Platz,
den er noch aus jener Zeit kannte, als dort nichts war, als eine riesige Brachfläche,
durch die mitten hindurch die Mauer verlief. Innerhalb von gerade mal 15 Jahren
hatten hier die Stadt und internationale Großkonzerne einen völlig neuen Stadtteil
aus dem Boden gestampft. Ein bisschen steril sah’s aus, empfand Obermayer, irgendwie
viel zu einheitlich, eine Spur zu protzig.
Er streifte sich die Feuchte von den Schultern,
als er sich in der Toilette eines Cafés im Sony-Center frisch machte. Dann verließ
er das Lokal und überquerte die Straße – hinüber zu jenem Gebäudekomplex, an dessen
vorderer Kante die Deutsche Bahn AG residierte. Zielstrebig näherte er sich einer
der großen Glastüren, orientierte sich kurz an einer Wegweisertafel und erkannte,
dass das Institut für kommunikative Zusammenarbeit im achten Stock untergebracht
war.
Harald Gangolf begrüßte seinen Gast überschwänglich,
wies ihm einen Platz in einem der wuchtigen, weißen Ledersessel zu.
»Und – wieder ein bisschen Zeit gehabt, unser
schönes Berlin zu genießen?«, fragte der Gastgeber und ergänzte: »Kaffee? Mineralwasser
– oder etwas anderes?«
Obermayer lehnte dankend ab. »Ich komm gerade
aus einem Café. Ja, Berlin ist allemal eine Reise wert. Wenn ich sehe, was hier
gebaut wird, was hier überall entsteht, dann braucht man sich nicht zu wundern,
dass kein Geld mehr für die ›Südstaaten‹ drunten in der Provinz bleibt.«
»Na, na, mein lieber Herr Obermayer«, entgegnete
Gangolf, »Baden-Württemberg braucht sich nicht zu beklagen. Immerhin regieren doch
bei euch seit Jahr und Tag die Schwarzen, die hier in Berlin glauben, die Weisheit
mit Löffeln gefressen zu haben.«
Obermayer winkte resignierend ab. »Aber bald
werden sie zeigen dürfen, was sie können.« Er hasste diese gegenseitigen Schuldzuweisungen,
dieses endlose Schwarze-Peter-Spiel, das zu absolut nichts führte und allenfalls
dazu geeignet war, die Politikverdrossenheit der Bevölkerung zu schüren.
»Zum Glück hat unser Projekt nur indirekt etwas
mit Politik zu tun«, versuchte Obermayer das Gespräch in die richtige Richtung zu
bringen. Er legte den Aktenkoffer auf seine Knie, ließ die Verriegelung hochschnellen
und entnahm ihm einen Schnellhefter.
»Sie haben Recht«, lenkte der Gastgeber ein
und verschränkte die Arme vor der Brust, »wir haben uns ein gemeinsames Ziel gesetzt.
Sie …« Er blickte auf die Papiere,
die sein Gegenüber auf dem Glastisch ausbreitete, »… Sie haben, nehm ich an, Ihren
kompletten Zwischenbericht mitgebracht …?«
Obermayer stellte den Koffer auf den Boden
zurück und nickte. »So ist es. Wir haben sozusagen die erste Ebene installiert«,
dozierte er und blätterte in dem Schnellhefter. »Ich kann sagen, dass die Strukturen
funktionieren. Und ich bin mehr denn je davon überzeugt, dass die Entscheidung Ihrerseits
richtig war, die Zentrale – wenn ich das so sagen darf – nicht hier im Machtzentrum
einzurichten, sondern in der Provinz.«
»Sagen Sie doch nicht immer Provinz«, lächelte
Gangolf, »das klingt so, als hätten Sie Minderwertigkeitskomplexe. Mir brauchen
Sie doch nicht zu sagen, wie wertvoll ein eher ländliches Umfeld ist. Da müssen
Sie nicht an jeder Ecke mit irgendeinem ungebetenen Lauscher rechnen.«
Obermayer fühlte sich bestätigt. »Außerdem
dürfen Sie nicht vergessen, dass der Wahlkreis Göppingen schon immer von sehr kompetenten
Persönlichkeiten vertreten wurde. Denken Sie an Manfred Wörner, den einstigen Verteidigungsminister
und späteren NATO-Generalsekretär, der nach seinem frühen Tod auf dem Friedhof Hohenstaufen
beerdigt wurde.«
Gangolf nickte. Davon hatte er gehört.
»Oder den Georg Gallus, zu dem sie alle ›Schorsch‹
sagen. Als Parlamentarischer Staatssekretär hat er jahrelang wortgewaltig, wie er
das auch heute im politischen Ruhestand noch tun kann, auf kernige, aber kompetente
Weise seine Meinung
Weitere Kostenlose Bücher