Schusslinie
das erste Blatt beiseite. »Vielleicht wird eine Person vermisst,
auf die unsere Beschreibung zutreffen könnte. Oder es hat jemand den Mann an der
Landstraße laufen sehen. Eigentlich muss er aufgefallen sein – denn wer spaziert
schon bei diesem Wetter abends an dieser Stelle rum?«
Die Journalisten schrieben eifrig mit, obwohl
sie Stocks aktuelle Presseerklärung bereits erhalten hatten.
Als Häberle fertig war und sich eingestehen
musste, dass erschreckend wenig Fakten vorlagen, meldete sich der Direktionsleiter
zu Wort: »Sie können ruhig schreiben, dass die Polizeidirektion auch für Hinweise
auf scheinbar belanglose Beobachtungen dankbar ist. Vielleicht …« Er überlegte. »… vielleicht macht sich ja
jetzt mal unser Präventionsprogramm bemerkbar, mit dem wir die Bevölkerung zu größerer
Zeugenbereitschaft aufgerufen haben.«
Nach knapp einer Viertelstunde war alles gesagt.
Dann hob Georg Sander den linken Arm und meldete sich, ohne aufgerufen worden zu
sein, sogleich zu Wort. »Diese Schüsse«, sagte er, »weiß man, mit welchem Kaliber?«
Die vier Männer an der Stirnseite schauten
sich an und einigten sich darauf, dass Häberle antworten sollte. »Es war Schrot«,
sagte er, »zwei Schüsse. Um diese zwei Schüsse hintereinander abfeuern zu können,
bedarf es einer zweiläufigen Waffe. Einer ›Luparo‹, wie man in einschlägigen Kreisen
dazu sagt.« Der Ermittler wartete, bis Sander mitgeschrieben hatte, und ergänzte:
»Bei Schrot gibt es keine Hülsen – und außerdem lässt es sich nicht einer bestimmten Waffe zuordnen,
wie unsere Techniker dies bei einem normalen Projektil tun können.«
»Aber die Schüsse waren sicher ziemlich laut«,
gab Sander zu bedenken, »die hätte doch leicht jemand in der Nähe hören können.«
»Denken Sie an das Wetter gestern. Spaziergänger
jedenfalls waren keine unterwegs«, gab Häberle zu bedenken, »und denken Sie an die
Eisenbahn. Wenn der Täter wartet, bis ein Zug vorbeifährt, vielleicht einer dieser
scheppernden, alten Güterzüge, dann gehen die Schüsse unter.«
»Und welches Motiv vermuten Sie?«, rief die
jugendliche Stimme eines Radiopraktikanten, der ein handliches digitales Aufzeichnungsgerät
um den Hals baumeln hatte.
»Um ehrlich zu sein«, antwortete Ziegler, »da
ist das ganze Spektrum möglicher Straftaten denkbar. Vom Drogendeal bis hin zu einem
Raubmord – schließlich haben wir bei dem Toten keine persönlichen Gegenstände gefunden.
Das kann auf Raub schließen lassen – oder auf die gründliche Beseitigung sämtlicher
Identitätspapiere.« Ziegler sprach wie immer langsam, sachlich und überzeugend.
Er zuckte mit den Schultern. »Wir wissen’s halt nicht.«
»Es kann also überregional bedeutsam werden?«,
fragte der SWR 4-Vertreter.
»Selbstverständlich«, antwortete der Staatsanwalt,
dessen volles Haar seit seinem letzten Besuch in Geislingen wieder um eine Schattierung
weißer geworden war, wie Sander registriert hatte. »Wir ermitteln in alle Richtungen«,
schloss Ziegler. Dieser Standardsatz musste ja kommen, dachte der Geislinger Lokaljournalist
und klappte seinen Notizblock zu.
»Vielleicht sollte man noch eines sagen«, meldete
sich Häberle erneut zu Wort. Sander, der gerade seinen Kugelschreiber in die Innentasche
seines legeren Sommerjacketts stecken wollte, hielt in der Bewegung inne.
»Bei dem Toten handelt es sich allem Anschein
nach um eine ziemlich gepflegte Person.« Der Kommissar schob ein weißes Notizblatt
zu sich her. »Seine Finger machten jedenfalls einen gepflegten Eindruck – nicht
die eines … eines Stadtschlampers,
wenn man das so sagen darf. Eher ein Schreibtisch-Mensch, einer, der im Büro arbeitet.«
Oberstaatsanwalt Ziegler fuhr sich durchs lockige
Haar. »Wenn wir uns davon leiten lassen, dann haben wir’s vermutlich mit einem Fall
zu tun, der möglicherweise in sozial höheren Schichten anzusiedeln ist.«
»Zum Beispiel?«, hallte eine Frauenstimme durch
den Saal. Es war die regionale Mitarbeiterin der ›Stuttgarter Zeitung‹.
»Ersparen Sie mir eine Aufzählung«, erwiderte
Ziegler, worauf Häberle spontan meinte: »Es könnte sich um Kreise handeln, in denen
man sich normalerweise die Hände nicht selbst schmutzig macht.«
Ein Journalist, der offenbar das große, bundesweite
Boulevardblatt vertrat, sprach sofort aus, was andere dachten: »Sondern sich anderer
bedient … hab ich Recht?«
Die Offiziellen schwiegen. Dann erklärte Ziegler
die Pressekonferenz für
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