Schusslinie
Striebel
unsanft in das Gebäudeinnere, dicht gefolgt von Rainer Kromer, dessen Entführer
hinter ihm herging und das geöffnete Klappmesser noch immer in der Hand hielt.
Als sie alle vier in dem Raum standen, bei
dem es sich offenbar um eine alte, verstaubte Werkstatt handelte, entpuppte sich
Striebels Bewacher als der Anführer. »Hinsetzen«, herrschte er die stumm gewordenen
Deutschen an und zog unter der Werkbank zwei wacklige Holzschemel hervor. »Los«,
wiederholte er. Striebel und Kromer setzten sich. Ihre Knie waren weich geworden,
die Gedanken ein Sammelsurium aus Angst, Panik und Entsetzen. Sie waren in die Klauen
der Mafia geraten, dachte Striebel. Und sein jüngerer Freund spürte, wie alle Versuche,
einen klaren Verstand zu behalten, jämmerlich scheiterten. Er zitterte. Wenn man
sie jetzt umbrachte, würden ihre Leichen vermutlich für immer verschwinden, dachte
er, während die beiden Fremden genüsslich gegen die Werkbank lehnten.
»Damit eines klar ist«, begann der Anführer,
dessen kantiges Gesicht im schummrigen Licht einer mit Spinnweben behangenen Wandlampe
gefährliche Züge angenommen hatte, »wir können hier keine Schnüffler brauchen. Ich
empfehle euch, die Finger von Jano zu lassen – und von allem, was euch nichts angeht.«
Er fuhr triumphierend fort: »Und euch geht hier nichts etwas an. Gar nichts.« Sein
Komplize spielte mit dem Klappmesser, das er bedrohlich nahe an Kromers Hals brachte.
Die beiden Deutschen pressten die Lippen zusammen, während sie ihre Entführer nicht
aus den Augen ließen.
Der Anführer lächelte. »He, Joschi, zeig mal
unseren Freunden, wie gut wir über ihre Verhältnisse informiert sind.«
Der angesprochene Joschi förderte zwei zerknitterte
Farbfotos zutage. Er legte sie stolz zwischen den beiden Entführten auf die Werkbank.
Striebel, der die Arme verschränkt hatte, drehte den Kopf zur Seite, um die Bilder
erkennen zu können. Was er da sah, ließ ihn den Atem stocken. Es war sein Haus –
aufgenommen erst vor kurzem, denn der violettfarbene Flieder blühte. »Was soll das?«,
entfuhr es ihm, »woher haben Sie das?« Seine Stimme war so fest und kräftig wie
immer. Kromer wollte auch etwas sagen, doch der Schock darüber, dass er auf dem
zweiten Foto sein Haus sah, verschlug ihm die Sprache. Auch dieses Bild musste noch
ganz neu sein, was er an dem prächtig blühenden Rhododendron im Vorgarten erkannte.
Die Entführer genossen die Situation. »Wir
wollten Ihnen nur demonstrieren«, begann der Anführer und vergrub seine Hände tief
in den Hosentaschen, »dass wir über Sie gut im Bilde sind – im wahrsten Sinne des
Wortes.« Er lachte schallend. »Ja, gut im Bilde.« Dann fügte er nach kurzer Pause
mit gefährlichem Unterton hinzu: »Über Ihre Gewohnheiten und … über Ihre Frauen. Und wir sind davon überzeugt,
dass Ihnen an deren Wohlbefinden genauso viel liegt wie uns.«
Striebel verlor die Beherrschung und sprang
auf: »Das lass ich mir nicht länger gefallen.« Joschi packte ihn mit beiden Händen
an der Schulter und drückte ihn auf den Stuhl zurück. Kromer schwieg. Er beobachtete
die Szenerie mit einer Haltung, die Angst verriet.
»Ihr verschwindet aus Košice und haltet über
alles, was hier geschehen ist, eure verdammten Schnauzen«, wetterte der Anführer.
»Solltet ihr euch nicht daran halten, wird es sehr gefährlich. Sehr.« Er trat dicht
an Striebel heran und sah verächtlich auf ihn hinab: »Wir haben unsere Leute überall.
Auch bei euch daheim.«
Sein Komplize, der bei Kromer stand und mit
dem Klappmesser spielte, ergänzte grinsend: »Das solltet ihr niemals vergessen.
Niemals – bei allem, was ihr tut.«
Striebel ergriff die Initiative. Er holte tief
Luft und hatte eine Stimme, als wolle er Gift und Galle spucken: »Und jetzt? Können
wir wieder gehn? Wir haben’s kapiert.«
Die beiden Entführer verzogen ihre Gesichter
zu einem bösartigen Grinsen.
18
Heini Heimerle wurde beim Frühstück blass. Er hatte sich die ›Geislinger
Zeitung‹ neben der Kaffeetasse so zusammengefaltet, dass die erste Lokalseite obenauf
lag. »Nächtlicher Mord am Bahndamm«, hatte Journalist Georg Sander seinen Artikel
betitelt. Ein großes Foto zeigte die Szenerie am Tatort mit vielen Einsatzfahrzeugen
und Polizisten.
»Hast du das gelesen?«, fragte Heimerle und
deutete auf die Zeitungsseite. Er wusste, dass sich seine Frau regelmäßig ärgerte,
wenn er wortkarg am Frühstückstisch saß und las. »Da haben sie einen auf
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