Schusslinie
geboren ist er aber in Göppingen. Aber Sie haben
Recht: Seine Wurzeln sind hier im Filstal.«
»Sehen Sie«, versuchte sich Liebenstein auf
Riegerts Wellenlänge einzustellen. »Deshalb bin ich hier. Um diese Stimmung aufzunehmen.
Von Ihnen wollte ich einfach mal hören, ob Ihnen in irgendeiner Weise etwas zugetragen
wurde, das diese Begeisterung an der WM schmälern könnte.«
Riegert sah seinem Besucher in die Augen. Sie
funkelten. Die Formulierung dieser Frage hatte ihn an eine Vernehmung erinnert.
Vielleicht täuschte er sich aber auch. Er entschied sich für eine Gegenfrage, wohl
wissend, dass dies jeden Polizisten zur Weißglut bringen konnte. Aber dieser Liebenstein
war ja keiner. »Haben Sie denn Erkenntnisse, dass es zu, na, nennen wir’s mal, zu
Störungen kommen könnte?«
Liebenstein hob beschwichtigend die Hände.
»Oh nein, verstehen Sie mich nicht falsch. Es geht mir nur darum, zu erfahren, ob
Ihnen etwas zu Ohren gekommen ist, auch auf der politischen Schiene. Ob es in Ihrem
Wahlkreis Gruppen gibt, denen daran gelegen ist, das WM-Fest als Plattform für ihre
Interessen oder für Demos zu missbrauchen.«
Riegert überlegte kurz. »Nee«, erwiderte er
dann, »was das anbelangt, sind wir ein relativ friedlicher Landkreis.«
»Auch keine Hinweise aus jüngster Zeit? Vielleicht … vielleicht vertraulicher Art?«
»Vertraulicher Art? Nein, überhaupt nicht.«
»Okay«, Liebenstein holte tief Luft, als habe
er mit einer solchen Antwort nicht gerechnet. »Aber denken Sie bitte daran: Deutschland
kann sich kein Desaster bei der WM leisten. Nichts, was dieses wunderschöne Fest
stört, das man im eigenen Land in der Regel nur einmal im Leben mitfeiern darf.«
Er räumte nach kurzer Pause ein: »Naja, manche auch zweimal – viele werden 1974
noch in Erinnerung haben.« Weil Riegert schwieg, bekräftigte er seine Bedenken:
»Und, was 1972 in München passiert ist, bei der Olympiade, als es beschwingte Spiele
sein sollten und dann dieser schreckliche Terroranschlag geschehen ist, Herr Riegert … achten wir beide darauf, dass die WM durch
niemanden und nichts zerstört wird.«
Der Abgeordnete nickte. Aber er suchte vergeblich
nach den Gründen, die diesen Mann zu solchen Aussagen bewogen haben mochten. Gab
es geheimdienstliche Erkenntnisse zu einem geplanten Terroranschlag? Aber warum
nahm sich dann ein Beauftragter des Wirtschaftsministeriums der Sache an? Riegert
beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Er ließ sich von Liebenstein eine Visitenkarte
geben.
Das Wetter wollte nicht besser werden. Meckenbach nahm es verärgert
zur Kenntnis, denn er hätte gerne mal wieder das elektrische Verdeck seines Mercedes-Cabrios
aufgleiten lassen. Dazu aber war es viel zu kalt. Auch das Schicksal schien gegen
ihn zu sein. Die Hoffnung, er würde Ute Siller auf dem Firmenparkplatz treffen,
hatte sich nicht erfüllt. Ihr Porsche stand bereits da und wahrscheinlich würde
sie im Büro schon den angestauten Frust einer Nacht an der armen Anna auslassen.
Er verriegelte seinen Wagen, strich sich das leichte Sommerjackett zurecht und prüfte
den Sitz seiner Krawatte. Dann eilte er an der Empfangstheke vorbei, lächelte dem
Mädchen dort kurz zu, und sprang mit einigen sportlichen Sätzen die Treppe ins Obergeschoss
hinauf. Von seiner Sekretärin, einer ergrauten Dame, die seit Menschengedenken für
Nullenbruch arbeitete, erfuhr er, dass sich der Chef noch immer nicht gemeldet hatte.
Die Frau Siller sei aber in einer äußerst schlechten Laune, versuchte sie ihn vorzuwarnen.
Das war ihm jetzt egal. Es mussten dringend einige geschäftliche Themen besprochen
und noch vor dem Wochenende entschieden werden. Außerdem wollte er wissen, welche
Befugnisse seine Kollegin erhalten hatte.
Meckenbach betrat Annas Büro. Das Mädchen saß
blass und eingeschüchtert hinter dem Schreibtisch. Er überlegte, ob die Augenringe
die bittere Folge eines ersten morgendlichen Anschisses waren, oder eher Zeichen
für nächtliche Aktivitäten. Meckenbach lächelte ihr zu, doch sie verzog keine Miene.
»Frau Siller will nicht gestört werden«, sagte sie.
»Keine Sorge, Kleines«, beruhigte er, »ich
nehm das auf meine Kappe.« Er klopfte an der Tür und drückte vorsichtig die Klinke
nieder. Augenblicke später – er hatte die Tür noch kaum einen Spalt geöffnet – schallte
ihm die zornige Stimme seiner Kollegin entgegen: »Verdammt noch mal, was geht hier
vor? Ich will keinen Menschen sehen! Ist diese Nutte nicht in der Lage
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