Schuster und das Chaos im Kopf - Kriminalroman
Nicht viele schafften das.
Er stand vor dem Tisch, auf dem wahrscheinlich seine tote Schwester lag, und zuckte zunächst mit keiner Wimper.
Schuster blickte ihn vorsichtig von der Seite an, auf alles gefasst.
Als das Tuch vom Gesicht gezogen wurde, schluckte Wolfrat hart.
»Herr Wolfrat, ist das Ihre Schwester?«
Wolfrat schwieg, seine Miene verriet nichts.
Sie deckten die Tote wieder zu, und Grätsch legte eine Hand auf Wolfrats Rücken. Der biss in seinen Handrücken, sagte aber noch immer kein Wort.
»Herr Wolfrat, ist das Ihre Schwester Carmen?« Schuster musste das einfach fragen. Ihm war hundeelend, wie jedes Mal. Auch in hundert Jahren würde er sich nicht daran gewöhnen.
Wolfrat stand bewegungslos da, dann plötzlich krallte er die rechte Hand in Grätschs Windjacke.
»Lassen Sie uns hier rausgehen.« Schuster schob ihn zur Tür hinaus.
Draußen auf dem Flur blieb Wolfrat abrupt stehen, sah Schuster mit einem traurigen Blick an, klappte seinen Mund auf, sofort wieder zu und starrte auf den Boden.
»Sind Sie imstande, uns ein paar Fragen zu beantworten?«
Wolfrat reagierte nicht.
»Vielleicht lieber morgen«, sagte Schuster leise.
Wolfrat drehte sich langsam um und sah die beiden Kommissare abwechselnd an. »Sieht fast so aus, als würde Carmen gleich wieder aufstehen. Sie liegt da, als würde sie schlafen.«
Er fing an, mit den Fäusten gegen die Wand zu hämmern.
Schuster wollte ihn festhalten, ihn beruhigen, aber Wolfrat packte seine Hände, und sie standen Auge in Auge da und starrten sich an. »Wer war das? Wer hat das getan? Wer macht so was? Sagen Sie mir, wer so was macht! Ich hab so oft zu ihr gesagt: Hör mit dem verdammten Job auf, Carmen. Such dir einen anständigen Job, Carmen. Aber meine Schwester war stur wie ein Esel!«
Schuster spürte sein Herz hämmern. Dann packte Wolfrat ihn bei den Schultern und fing an, auf seinem Oberkörper herumzutrommeln. Schuster nahm nicht mal seine Hände hoch, um Wolfrat abzuwehren.
»He, he!« Grätsch war dazugesprungen und versuchte, Wolfrat festzuhalten. »Beruhigen Sie sich, Herr Wolfrat! Mein Kollege kann nichts dafür.«
Schuster ging in Deckung, damit er nicht versehentlich eins auf die Nase bekam. Vollkommen verdattert stand er da und beobachtete das Ganze.
Vermutlich hätte er sich nicht mal gewehrt, wenn Wolfrat ihn geschlagen hätte.
Zu zweit schafften sie es schließlich, ihn zu besänftigen und in sein Auto zu verfrachten. Anschließend verschwand Schuster im Klo und schrubbte sich die Hände. Die Haut war an vielen Stellen wund und blutete leicht.
Er griff in den Papierautomaten und holte zwei Blatt heraus.
Damit tupfte er ungeduldig das Blut ab, nur um dann gleich wieder den Wasserhahn aufzudrehen und sich erneut die Hände zu waschen.
So ging das eine Weile, bis er sich schließlich leise stöhnend an die Wand lehnte und so heftig auf die Zunge biss, dass sie ebenfalls blutete.
Hör auf mit dem Mist, verflucht! Du wirst jetzt nicht wieder zum Wasserhahn gehen ...
Wieder stöhnte er und blickte in den Spiegel.
Er sah, dass er schon wieder ein graues Hemd trug. Er hatte noch keine Zeit gehabt, seine blauen Hemden zu waschen.
Dieser Tag hatte nur beschissen laufen können.
Immerhin war Carmen Wolfrat nicht verheiratet gewesen und hatte auch keine Kinder.
Für Schuster gab es kaum etwas Schlimmeres, als irgendwo an einer Haustür klingeln und in große, ängstliche Kinderaugen blicken zu müssen.
Eure Mama kommt nicht mehr nach Hause ...
Während Wolfrat seine tote Schwester identifizierte, hatte Moritz Kuhn das Vergnügen, erst mit dem Obdachlosen, der Carmen Wolfrat gefunden hatte, zu sprechen und dann mit dem bislang einzigen Zeugen, wenn man ihn denn so nennen mochte.
Kuhn hatte vier Semester Psychologie studiert, ganz einfach weil es ihn interessierte. Und ja, er liebte amerikanische Profiler-Serien, egal wie unrealistisch sie auch sein mochten.
Bei dem Kerl, der nun vor ihm hockte und ihn mürrisch ansah, versuchte er es zunächst mit psychologischem Fingerspitzengefühl. Der Mann war seit vier Jahren obdachlos und hatte sich die Bank, auf der er die tote Frau gefunden hatte, als Nachtquartier ausgesucht.
Kuhn schaffte es nicht, ihn davon zu überzeugen, sich kooperativ zu zeigen. Im Gegenteil, der Mann hatte eine Heidenangst vor der Polizei und weigerte sich anfangs sogar, auch nur seinen Namen zu nennen.
Danach nahm sich Kuhn einen jungen Mann von 18 Jahren vor, der nachts in der Nähe der Wallanlagen
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