Schwaben-Gier
Schauer über den Rücken lief, brachte sein Mitgefühl zum Ausdruck. »Koch? Ich hoffe, die Sache lässt sich schnell aufklären«, sagte er.
»Das hoffe ich auch. Sobald sich bei mir etwas Neues ergibt, gebe ich dir Bescheid.«
Er legte das Telefon zur Seite, schenkte sich den Rest des Kaffees ein, trank die Tasse leer. Vielleicht war das die landestypische Art, Schmerz zu bewältigen, überlegte er, die schwäbische Methode, auf den Tod eines nahen Menschen zu reagieren, indem man sich schon am frühen Morgen Hals über Kopf in die Arbeit stürzte und depressiven Gedanken erst gar keine Möglichkeit bot, sich im Herzen einzunisten. Arbeiten, nicht nur um zu leben, sondern auch zu vergessen, um die Schattenseiten unserer Existenz nicht an sich heran zu lassen. Ein Vorgehen, das eine robuste Konstitution erforderte und zartbesaiteten Seelen sicher nicht ohne Vorbehalte zu empfehlen war.
Braig suchte seine Unterlagen zusammen, schlüpfte in seine Jacke, lief zur S-Bahn-Station Feuersee. Die diesigen Nebelbänke des Vortags hatten sich verzogen, die Temperatur um mehrere Grad Celsius zugelegt. Ein kräftiger Wind wirbelte Zigarettenkippen und abgestorbene Blätter durch die Luft. Er eilte die Treppen zum Bahnsteig hinunter, wartete auf den Zug, suchte sich einen freien Platz. Das Pochen hinter seinen Schläfen hatte nur unmerklich nachgelassen, der schlechte Schlaf der vergangenen Nacht steckte ihm in den Gliedern.
Er schaute sich um, sah, dass der Zug gut besetzt war: Männer und Frauen in gepflegter Kleidung, Schülerinnen und Schüler in den obligatorischen ausgewaschenen Jeans und Sportschuhen gerade angesagter Marken. Neben ihm raschelte es; er drehte sich zur Seite, sah das Foto auf einer der Innenseiten der Zeitung seines Nachbarn. Er erkannte die Frau sofort, las die Überschrift des darunter veröffentlichten Artikels: Wer hatte am Montag noch Kontakt mit der ermordeten Marianne Kindler?
Er kam nicht dazu, den Text weiterzuverfolgen, weil der Mann die Zeitung zusammenfaltete und zur Tür lief, hoffte, dass der Aufruf von möglichst vielen, vor allem den von ihr besuchten Leuten gelesen, gehört oder gesehen wurde und diese dann auch dazu veranlasste, seinen Kollegen darüber Bericht zu erstatten. Es musste doch möglich sein, die Wege der Getöteten zu rekonstruieren und sich auf diese Weise ihrem Mörder zu nähern. Und wenn nicht?
Braig wollte nicht darüber nachdenken, welche Konsequenzen ein solcher Misserfolg nach sich ziehen würde. Wenn es auf diesem Weg nicht gelänge, den Täter einzukreisen, mussten sie sich andere Methoden einfallen lassen, das Ziel zu erreichen. Das war aber nicht die Aufgabe, über die er sich jetzt im Augenblick den Kopf zu zerbrechen hatte. Was jetzt anstand, war der Versuch, die richtigen Fragen zu stellen, um herauszufinden, ob es eine Bedrohung durch Konkurrenzbetriebe gab und wer dafür verantwortlich war und den möglichen Liebhaber Marianne Kindlers aufzuspüren.
Er stieg aus dem Zug, lief am alten, sauber herausgeputzten Bahnhofsgebäude vorbei in die schmale Gasse, die auf den Vorplatz mündete, nahm überrascht wahr, dass es sich um die Tordis-Hoffmann-Straße handelte. Er hatte das Bild des Vortags vor Augen, nahm irritiert wahr, dass es in keiner Weise mit dem übereinstimmte, was er jetzt vor sich sah. Die schmale langgezogene Straße mit den spitzgiebligen kleinen Einfamilienhäusern und der frühlingshaft verzauberten Vegetation in den Vorgärten schien zu schlafen. Ruhe und Frieden bestimmten die Szenerie. Kein Mensch, mit Ausnahme einer auf einer Gartenmauer dösenden Katze sonst kein Tier, nur eine Hand voll geparkter Autos, soweit er sah.
Er folgte der Straße, hatte nach wenigen Metern das zitronengelb gestrichene Haus Monika Hellers vor sich. Impulsiv stieg er die beiden Stufen hoch, läutete die Glocke. Vielleicht hatte die junge Frau inzwischen ihren Schock über den Tod Marianne Kindlers überwunden und war zu einem sachlichen Gespräch fähig.
Er wartete einige Sekunden, drückte erneut auf die Glocke, vernahm keine Reaktion. Nichts rührte sich, kein Laut war zu hören. Monika Heller schien mitsamt ihren Kindern ausgeflogen.
Braig drehte sich um, lief die Stufen abwärts, sah das neugierige Gesicht einer seltsam frisierten Frau im geöffneten Fenster eines der gegenüberliegenden Häuser. Er überlegte nicht lange, lief über die Straße geradewegs auf die Frau zu. Ihre Reaktion kam zu spät. Sie hatte sich abwenden, schnell vom Fenster
Weitere Kostenlose Bücher