Schwaben-Gier
alt, erinnerst du dich?«
Er wusste sofort, was sie meinte. Der Zufall hatte es gewollt, dass beide Frauen im letzten Jahr an ihrem Ehrentag zum gemeinsamen Dienst eingeteilt waren. Kurz vor dem Ende ihrer Schicht waren sie von Braig und Torsten Rail, dem Lebensgefährten Sandra Rehles, einem Kollegen von der Waiblinger Kripo, mit dem Braig schon mehrfach zu tun gehabt hatte, überrascht und ins Waiblinger Café Tagblatt entführt worden, wo es zu einem feucht-fröhlichen Ausklang des Tages kam.
»Sie wurde ermordet.«
»Ermordet! Oh nein!« Er seufzte laut auf, hörte das Heulen seiner Freundin. Wollte das Elend in ihrem Leben denn kein Ende nehmen? Er wartete einige Sekunden, merkte, dass sie sich kaum beruhigte. »Doch nicht im Dienst?«, fragte er dann.
Sie antwortete nicht sofort, hustete, putzte sich die Nase. »Er hat sie erdrosselt.«
»Der Täter ist bekannt?«
Plötzlich geriet sie vollends außer sich. »Das ist es ja«, schrie sie in den Apparat, »das ist ja das Schreckliche!«
Er konnte ihren Gedanken nicht folgen, wusste nicht, was sie so in Wallung brachte. Handelte es sich um einen Polizeibekannten Täter, eine Person, die schon mehrfach in kriminelle Machenschaften verwickelt gewesen war, den Nachstellungen der Kollegen jedoch jedesmal aufs Neue hatte entkommen können? Braig wusste selbst, wie gefährlich sein – ihr gemeinsamer – Beruf war. In einem der schlimmsten Momente, die er je erlebt hatte, war Ann-Katrin vor seinen Augen von einem skrupellosen Verbrecher niedergeschossen worden. Ohnmächtig hatte er dabei gelegen, dann auf den Mann gezielt – zu spät, um Ann-Katrin noch vor den lebensgefährlichen Verletzungen retten zu können. Gefahren dieser Art gehörten zu ihrem Beruf, darüber gab es keinen Zweifel, und doch traf es ihn jedesmal tief ins Innerste seiner Seele, wenn er davon hörte, dass wieder einmal eine Kollegin oder ein Kollege Opfer ihrer Profession geworden war. Jetzt also diese junge Frau in der Blüte ihres Lebens, nach gerade einmal etwas mehr als drei Jahrzehnten auf diesem von so unzählig vielen verqueren Existenzen besiedelten Erdball.
Er lauschte in den Hörer, merkte, dass seine Freundin sich etwas beruhigt hatte. »Hilft es dir, wenn ich komme?«, fragte er.
Sie zog die Nase hoch, ließ einen tiefen Seufzer hören. »Wir sind alle am Ende, das ganze Revier.«
»Das kann ich verstehen«, sagte er, »das tut mir sehr Leid für dich.«
»In ihrem Haus bei Schorndorf ist es passiert. Torsten war es. Er hat sie erdrosselt.«
Braig benötigte mehrere Sekunden zu begreifen. »Wie bitte?« Er sprang von seinem Stuhl hoch, stieß mit dem Arm an den Schreibtisch, spürte den brennenden Schmerz. »Torsten Rall?«
»Sie wollte sich von ihm trennen.«
Er hatte Mühe, ruhig zu bleiben, verstand jetzt erst in voller Schärfe, was Ann-Katrin ihm da erzählte. Torsten Rail, sein Kollege, der führende Kriminalhauptkommissar des gesamten Kreises, hatte seine Lebensgefährtin, eine Polizeihauptmeisterin, erdrosselt? »Das meinst du nicht ernst.«
Sie ließ ein schrilles Lachen hören. »Nein, ich erzähle Witze. Eine meiner Kolleginnen, mit der ich mich sehr gut verstand und gern zusammen arbeitete und letztes Jahr gemeinsam Geburtstag feierte, wurde von ihrem Freund erdrosselt. Von ihrem Freund, mit dem du uns beide letztes Jahr am Geburtstag überrascht hast. Erinnerst du dich noch?«
Er spürte impulsiv, dass sie es ernst meinte, dass das, was nicht sein konnte, geschehen war. »Er hat es gestanden?«
Ihre Antwort kam sofort. »Die Esslinger Kollegen haben die Untersuchung übernommen. Er hat ein Geständnis abgelegt, ja.«
Mein Gott, was ist mit uns Menschen los, überlegte Braig, was läuft da schief? Was ist es, das uns ständig aufs Neue auf eine schiefe Bahn geraten läßt?
»In Ulm haben sie ihn gefasst. Er wollte sich das Leben nehmen.«
»Warum?« Er wusste selbst, wie sinnlos seine Frage war. Sinnlos und nicht zu beantworten. Von niemand.
»Warum? Sie wollte sich von ihm trennen.«
»Aber doch nicht Torsten!«
»Du warst mit ihm auf der Polizeiakademie.«
»Im selben Kurs, ein Jahr lang. In Villingen-Schwenningen.«
Er dachte an die Zeit zurück, versuchte, sich an den Kollegen zu erinnern, sein Verhalten daraufhin zu überprüfen, ob es Indizien gab, die auf die spätere Gewalttat hindeuteten. Rail im Seminarraum, beim gemeinsamen Lernen, in einem Lokal zusammen mit anderen Studenten. Rail konzentriert das Thema verfolgend, freundlich gelöst
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