Schwaben-Gier
an, »der mit Ihnen zusammen das Bild des Mannes neu erstellt. Er ist geübt in solchen Dingen.«
Margarethe Geissler schüttelte erneut den Kopf. Ihrem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, wie peinlich es ihr war, ihm nicht weiterhelfen zu können. Sie erhob sich vom Sofa, lief zum Tisch, kniete vor dem Engel nieder. »Wenn Sie jetzt gehen könnten«, sagte sie mit sanfter, kaum hörbarer Stimme, »ich möcht’ mit dem Heiligen reden.«
Braig fühlte sich unwohl, wusste nicht, wie er reagieren sollte. Auf eine genauere Beschreibung des Mannes zu warten, erschien ihm unhöflich, zudem fragte er sich mehr und mehr, was überhaupt von den Aussagen einer Frau zu halten war, die mit einem Heiligen, einem Engel oder was für einer Existenz auch immer in Kontakt zu treten glaubte. Stand sie unter Drogen oder hatte sie Probleme, die von einem Psychiater in Angriff genommen werden mussten?
Er stand von seinem Platz auf, legte seine Visitenkarte auf das Sofa, verabschiedete sich, verließ das Haus. Die Frau kniete vor dem Tisch, schien keine Notiz mehr von ihm zu nehmen. Er stieg die Stufen hinunter, folgte der Tordis-Hoffmann-Straße Richtung Bahnhof, fühlte sich wie benommen. Wie waren die Worte Margarethe Geisslers einzuordnen, welche Glaubwürdigkeit kam ihnen zu? Lohnte es sich, in Reutlingen im Restaurant Friedrich’s nachzufragen, ob Marianne Kindler dort vielleicht öfter in Begleitung eines fremden Mannes gesehen worden war?
Braig hatte den Bahnhofsvorplatz gerade erreicht, als er das Signal seines Handys vernahm. Er blieb neben einer dichten Nadelhecke stehen, hatte Gerhard Stöhr am Ohr.
»Diesmal haben wir mehr Glück«, begann der Kollege.
»Wieso?«
»Gerade kam ein Anruf. Ein Lokal, in dem diese Kindler am Montag vorsprach.«
»Wo?«
»Restaurant Friedrich’s im Listhaus«, erklärte Stöhr, »das liegt im ersten Obergeschoss der Buchhandlung Oslander in Reutlingen.«
»Wie bitte?«, rief Braig.
»Im ersten Obergeschoss der Buchhandlung …«
»Ja,ja, ich habe verstanden«, unterbrach er den Kollegen, »wann war die Frau dort?«
»Am Montag um zwölf Uhr.«
»Sie haben die Nummer?«
Stöhr buchstabierte die Ziffern, wartete, bis Braig sie notiert hatte.
»Ich rufe dort sofort an. Vielleicht wissen die Bescheid, wohin die Frau anschließend ging.« Er sah auf, weil er einen Zug in den Bahnhof fahren hörte, brach das Gespräch ab, spurtete über den Platz und auf den Bahnsteig, betrat einen der Waggons. Er war nur schwach besetzt, bot genügend freie Sitzgruppen. Braig nahm Platz, sah, wie sich der Zug in Bewegung setzte, gab die Nummer des Lokals in Reutlingen ein. Konnte das ein Zufall sein, arbeitete es in ihm, zweimal dieselbe Stadt, zweimal die gleiche Adresse?
Er hatte Mühe, den Mann zu verstehen, als sein Gespräch angenommen wurde, stellte sich vor, fragte nach Marianne Kindlers Besuch.
»Ja, die war bei uns, wie ich bereits Ihrem Kollegen erzählte. Am Montag, kurz nach zwölf Uhr. Sie brachte uns Nudeln, wie immer. Sie wurde ermordet, noch am selben Tag, ja? Das ist schrecklich, wir können uns das überhaupt nicht erklären.«
»Wissen Sie, wie lange sie bei Ihnen war und wohin sie dann fuhr?«
Der Mann am anderen Ende schien zu überlegen. »Nach Tübingen, kann das sein?«
»Tübingen? In welches Lokal?«
»Da bin ich überfragt. Ich kann mich nicht erinnern, mit Frau Kindler darüber gesprochen zu haben.«
»War sie oft bei Ihnen?«
»Na ja, wenn wir Nudeln von ihr brauchten. So alle zwei bis drei Monate.«
»Und sie fuhr anschließend nicht immer in dasselbe Lokal?«
»Oh, das kann ich nicht sagen. Da muss ich erst nachdenken, ob wir uns jemals darüber unterhalten haben.«
»Sie kennen Frau Kindler also nicht näher?«
Der Mann zögerte keinen Moment mit seiner Antwort. »Nein, natürlich nicht. Ich kenne sie nur von ihren Besuchen her, wenn sie uns Nudeln brachte, sonst nicht. Die Nudeln sind von allerbester Qualität.«
»War sie immer allein, wenn sie zu Ihnen kam? Oder erinnern Sie sich, sie einmal in Gesellschaft eines Mannes gesehen zu haben?«
»Eines Mannes?«
Braig hörte lautes Geschirrklappern im Hintergrund. »Ja, eines …«
»Ach so, ja. Einmal hatte sie einen Mann dabei. Einen kräftigen Typ.«
Braig glaubte, nicht richtig zu hören. »Oh, Sie können ihn beschreiben?« Er sprach so laut, dass sich eine junge Frau, die gerade weiter vorne aufgestanden war und zur Tür eilte, um auszusteigen, zu ihm umdrehte und ihn neugierig betrachtete.
»Was
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