Schwaben-Gier
das Leben einfach beschissen«, presste sie hervor.
Braig hatte weiß Gott viel erlebt in den letzten Jahren als Polizeibeamter, mit Menschen aus den verschiedensten Schichten erfreuliche und weniger erfreuliche Kontakte gehabt, Auseinandersetzungen geführt und auch handgreifliche Streitereien und aggressive Gewaltakte durchstehen müssen. Was ihm bisher aber erspart geblieben war, waren gerade dem Kindesalter entwachsene Milchbubis als überführte Mörder, die das Leben eines Menschen auf dem Gewissen hatten.
»Sie haben gestanden und den Tathergang unabhängig voneinander detailliert geschildert.«
Er blieb mit unschlüssiger Miene vor ihr stehen, wusste nicht, was er sagen sollte. Irgendeinen billigen Trost aussprechen, um sie aus dem Elend ihrer so jungen Ermittlerkarriere zu befreien?
»Fünfzehn und sechzehn Jahre alt. Wir haben die Elternhäuser überprüft. Keine sozialen Außenseiter. Auch keine Anzeichen von Wohlstandsverwahrlosung, im Gegenteil. Typische Mittelschicht. Gut behütete Jungs, wie man so sagt, aus Familien, die Wert auf ein gemeinsames Familienleben legen. Die sind fassungslos, am Boden zerstört. Mein Junge? Niemals! Sie täuschen sich! Wir waren in ihrer Schule. Keine Rowdys, keine Krawallbrüder. Die Lehrer beschrieben sie übereinstimmend als normal. Die beiden? Nie! Sie waren auf dem Weg nach Hause, pöbelten den obdachlosen Mann an. Er wehrte sich kaum, da traten sie auf ihn ein, schlugen ihn nieder, trampelten auf ihm herum. Als er regungslos am Boden lag, zogen sie ihr Handy vor, machten die Bilder. Sie ließen ihn liegen, gingen nach Hause, legten sich in ihre Betten. Warum ist das Leben so beschissen?«
Sie riss ihm die Fotos aus der Hand, winkte ihm zu, stürzte davon.
Er bemerkte die Tränen, die ihr über die Wangen kullerten, versuchte ihr nachzulaufen und sie zu trösten, sah nur noch, wie sie in den gerade angelangten Lift sprang und nach unten fuhr. Braig starrte auf die verschlossene Fahrstuhltür, hatte Mühe, sich aus seiner Erstarrung zu lösen. Irgendwo im Hintergrund vernahm er die laut schimpfende Stimme Felsentretters, hörte, wie das Tremolo des Kollegen in ein polterndes unflätiges Fluchen überging. Er eilte über den Flur in sein Büro, wollte sich eine Begegnung mit dem oft schlecht gelaunten Beamten ersparen. Nicht jetzt, nach all dem, was er gerade erfahren hatte.
Braig sah einen Stapel Blätter neben seinem Fax liegen, nahm sie in die Hand, blätterte sie durch. Er glaubte, nicht richtig zu sehen. Es handelte sich um den Ausdruck der von Marianne Kindler am Tag ihres Todes durchgeführten Handy-Gespräche. Heute, am Freitag, hatte sich die zuständige Firma bequemt, die Ziffern zu übermitteln, zwei oder drei Tage, nachdem sie sie angefordert hatten. Er spürte seine Wut, sah auf der Uhr, dass es kurz nach zwölf war, schob die Blätter zur Seite. Ihm fehlte die Kraft und die Konzentration, sich jetzt auch noch darauf einzulassen. Er griff zum Telefon, rief Ann-Katrin an, erfuhr, dass ihre Schicht bis vierzehn Uhr ging. Sie hatte vor, sich anschließend zuhause noch eine Stunde auszuruhen, um für die Einladung am frühen Abend gerüstet zu sein.
»Du kommst rechtzeitig?«
Braig erschrak, sagte dennoch zu. Er hatte den Termin völlig vergessen. Marion, die Mitbewohnerin Theresas in Tübingen, hatte zu einer kleinen Feier geladen, weil die Wohngemeinschaft um ein weiteres Wesen ergänzt worden war. Die vierte Person war zwar wie die übrigen drei weiblichen Geschlechts, verfügte aber über vier Beine – wie alle gesunden Katzen. »Marion und Ragna wollen Theresa aufheitern«, hatte Ann-Katrin ihm erklärt,« von Mamas Elend ablenken, das ist der Sinn der Einladung.«
»Ich werde mich beeilen«, sagte er zu. Er hatte gerade aufgelegt, als der Apparat läutete. Braig nahm den Hörer wieder her, hatte eine männliche Stimme am Ohr.
»Völlinger vom Heilbronner Polizeirevier. Wir haben miteinander telefoniert wegen der beiden Männer, die beobachteten, wie die Leiche Frau Kindlers am Götzenturm abgelegt wurde.«
»Ich erinnere mich.«
»Sie haben den Täter noch nicht gefasst.«
»Nein. Es ist sehr mühsam. Die Sache wird immer komplizierter.«
»Dann will ich Sie nicht lange aufhalten. Aber ich denke, Sie sollten wissen, weshalb Reusch und Bergel, die beiden Zeugen, so früh unterwegs waren. Sie haben sich Gedanken gemacht, was die um diese Uhrzeit dort verloren hatten bei dem Nebel, richtig?«
Braig bestätigte die Worte des Kollegen.
»Es
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