Schwaben-Gier
erzählen.
»Du hoffst immer noch, dass sie irgendwann zu sich kommt?«, warf Braig nach einer Weile ein.
»Ich antworte dir mit Martin Luther«, sagte Ann-Katrins Schwester, »wenn morgen die Welt untergeht, werde ich heute noch einen Baum pflanzen.«
Wahrscheinlich, überlegte er, war diese Einstellung die einzige Möglichkeit, die Situation zu ertragen.
»Hoffnung ist eine der elementarsten Kräfte, die wir alle benötigen, um das Leben zu bewältigen. Viele sind sich dessen nur nicht bewusst.«
»Ich will nicht wissen, wie viel von dem, was wir uns erhoffen, in Erfüllung geht«, meinte er, »ich fürchte, nur ein Bruchteil.«
Theresa schüttelte den Kopf. »Das tut nichts zur Sache. Wir können gut damit leben, dass sich nur ein kleiner Teil verwirklichen lässt. Entscheidend ist nicht die Erfüllung aller unserer Träume, sondern die Erfahrung, dass sich überhaupt etwas in dieser Richtung bewegt. Zum Glück bleibt uns unsere Zukunft verborgen.«
»Angeblich nicht allen. Es soll Menschen geben, für die die Überwindung der Zeit kein Problem darstellt.« Er dachte an seine Begegnung mit Margarethe Geissler, berichtete von dem Menschenauflauf in Oettingen und den angeblichen Prophezeiungen des Engels. »Wenn wir die Vermisste nicht bald finden, erfährt die Revolverpresse von diesen Behauptungen. Dann fangen die an, den Friedhof umzugraben. Wenn wir sie nicht daran hindern, bei Nacht und Nebel.«
»Vielleicht habt ihr Glück und sie lebt noch. Dann ist der ganze Spuk schnell vorbei.«
»Du bist wirklich ein Mensch voller Hoffnung.« Braig nickte ihr freundlich zu, trank sein Glas leer. »Ich frage mich nur, wo alle die Verrückten herkommen, die an diesen Engel und seine angeblichen Vorhersagen glauben. Das Mittelalter ist doch vorbei.«
»Du musst dein Menschenbild ändern«, konterte Theresa, »nur weil wir im einundzwanzigsten Jahrhundert leben, haben sich die entscheidenden Charakterzüge der Menschen nicht grundlegend verändert. Unsere Wünsche und Bedürfnisse entsprechen im Kern immer noch denen unserer Vorfahren. Wir sind angewiesen auf die Liebe, die Zuwendung, die Anerkennung anderer, sind süchtig nach dem Bewusstsein, dass unser Leben einen Sinn hat und alles, was wir tun, letztendlich einem guten Ziel zustrebt. Leider sind diese im Grunde religiösen Bedürfnisse in unserer globalisierten Welt nicht mehr so einfach zu stillen. Die großen Kirchen haben keine Chance, sich dem multikulturellen Überangebot als allumfassende Sinnvermittler entgegenzustellen – das kann auch nicht ihr Ziel sein. Aber je mehr die etablierten Kirchen an Einfluss verlieren, desto mehr gewinnen obskure Kulte dazu. Und je einfacher, ja primitiver die Antworten ausfallen, die mir der Kult zuteil werden lässt, desto weniger muss ich über den Sinn meines Lebens nachdenken. Ich fürchte, wir ahnen noch gar nicht, was uns in Zukunft alles an obskuren Heilsverkündern erwartet. Was in den USA heute schon abgeht, mag ein Hinweis sein.« Sie erhob sich, zeigte ihr leeres Glas, fragte nach Braigs und Ann-Katrins Wünschen.
»Ich gehe mit«, sagte er, »ich will selbst schauen, was es noch gibt.« Er stand auf, schob sich hinter Theresa durch die Besucher, hörte das gedämpfte Signal eines Handys. Die Melodie schien ihm bekannt; er stellte sein Glas ab, griff in die Tasche, zog das Gerät vor. Zwei junge Frauen starrten ihn grinsend an. Er ließ Theresa stehen, schob sich weiter durch die Besucher, erreichte die Tür zur Toilette. Er drückte die Klinke nieder, betrat den kleinen Raum, nahm das Gespräch an. Die Stimme am anderen Ende war erst zu verstehen, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Er verriegelte sie, konzentrierte sich auf seinen Gesprächspartner.
»Weisshaar hier, du bist noch nicht im Bett?«
»Nein. Was ist los?«
»Gerade ging eine Meldung der Kollegen aus Reutlingen ein. Sie könnte mit deinem Fall zu tun haben.«
»Worum geht es?«
»Es scheint sich um den Hilferuf einer Frau namens Sabine Layer zu handeln. Das ist doch die Person, nach der du suchst?«
»Ja, klar«, rief Braig überrascht. »Wer hat angerufen? Die Frau selbst?«
»Soweit ich weiß, ja. Sie fühlt sich bedroht, benötigt sofort Hilfe. Kannst du die Sache übernehmen? Ich gebe dir die Nummer der Reutlinger Kollegen, sie erwarten deinen Anruf. Anschließend informiere ich Katrin.«
Braig zeigte sich einverstanden, gab die Ziffern des Reutlinger Kommissariats ein, hatte eine Kollegin Deilinger in der Leitung. »Braig
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