Schwaben-Hass
Fenster, starrte nach draußen, sah die kahlen Baumkronen in den Himmel ragen. Sie befand sich in luftiger Höhe, mindestens im vierten, fünften Geschoss, in atemberaubendem Abstand von der Straße, hatte keine Chance zu entkommen.
Der Himmel war blau, die Sonne strahlte gleißend hell. Sie starrte nach draußen aufs schiefe Dach, sah die Schindeln eines Nachbarhauses vor sich, etwa ein, zwei Meter entfernt, etwas niedriger als ihr eigener Standort.
Die Tritte gegen die Tür hinter ihr wurden fester, das Geschrei des Mannes lauter. Sie hörte, wie das Holz knirschte, das Schloss aus seiner Fassung zu brechen drohte. Es handelte sich nur noch um Sekunden.
Michaela König war kein Kind von Traurigkeit. Sie hatte das Leben genossen, das ihre dazu beigetragen, dass es genügend lebenswerte Stunden gab. Jetzt sollte alles vorbei sein?
Sie hörte das Holz splittern, die wütenden Tritte des Verbrechers, riss das Fenster auf, schwang sich auf die schmale Brüstung. Zum Abgrund waren es keine fünfzig Zentimeter. Die Ziegel waren heiß, schienen unter den Strahlen der Sonne zu glühen.
Michaela König kletterte vollends aufs schiefe Dach, rutschte, klammerte sich an scharfkantigem Eisen fest. Die beiden Erker über ihr schienen hoch in den Himmel zu ragen.
Sie schob sich vorsichtig zur Seite, näherte sich dem Dach des Nachbarhauses. Unten, auf der ihr gegenüberliegenden Straße vor dem Helferhaus, die ersten aufgeregten Schreie. Wildes, hysterisches Rufen. Laute Stimmen, Arme, die nach oben wiesen.
Sie kletterte vorsichtig weiter, hatte die Kante des Daches fast erreicht, machte sich fertig zum Absprung. Gerade als sie es riskieren wollte, starrte der Bärtige fünf Meter hinter ihr aus dem Fenster. Nasse Haare, verschwitztes Gesicht, klebriger Bart.
Sie wusste, dass es nur noch diesen Weg gab. Sie musste es tun. Im letzten Moment entdeckte sie den Spalt, der zwischen ihr und dem Nachbarhaus klaffte. Mindestens einen Meter breit. Aus der Entfernung kaum zu bemerken, aus unmittelbarer Nähe ein unüberwindbares, alles verschlingendes Loch.
Entsetzt starrte Michaela König nach unten.
42. Kapitel
In der Nacht hatte Steffen Braig von Ann-Katrin Räuber geträumt. Keine erotischen, sexuell ausschweifenden oder von unerfüllten Begierden verursachten schwülstigen Szenen, sondern Bilder, die von ihrer Person, ihrem Auftreten, ihrem wohlklingenden Tonfall geprägt waren. Er stand vor einem großen Haus, musterte die Auslagen eines Ladens, sah, wie eine bildhübsche junge Frau zu ihm herschlenderte. Gemeinsam betrachteten sie die ausgestellten Artikel, sprachen über das Aussehen, die Qualität und den Preis der Waren, spazierten dann weiter. Seine Begleiterin, in Aussehen und Tonfall unübersehbar Ann-Katrin Räuber, unterhielt sich mit ihm, lachte, scherzte, erzählte, zeigte auf die Sportgeräte in den Schaufenstern. Heimtrainer, Fitnesstrimmer, Inline-Skater, Bälle, Gewichte. Er war total hingerissen von seiner Gesprächspartnerin, hörte ihr zu, las von ihren Lippen ab, berichtete ihr von seinen Versuchen, seine Fitness zu steigern. Plötzlich das Auftauchen eines ihm unbekannten Mannes, dünn, hager, fast knochig. »Verschwinden Sie«, brüllte der Fremde, »oder ich bringe Sie um.« Er packte Ann-Katrin am Arm, tauchte mit ihr ab. – Dann war der Traum beendet.
Ich sollte herausfinden, was das zu bedeuten hat, überlegte er, vielleicht finde ich die Zeit, mich darum zu kümmern. Angeblich sind in fast allen Träumen wichtige Botschaften enthalten.
Aber war die Grundaussage wirklich so schwer zu erraten? Es musste Monate, vielleicht sogar Jahre her sein, dass er zum letzten Mal von einer Frau geträumt hatte – jedenfalls soweit er sich im wachen Zustand daran erinnerte. Ann-Katrin hatte ihn beeindruckt, ohne jeden Zweifel, obwohl er sie bisher kaum kannte, aber war das Grund genug, sich Gedanken über weitere Kontakte, auch über das berufliche Umfeld hinaus zu machen?
Er kam nicht dazu, sich nach der jungen Kollegin zu erkundigen, als er im Amt eintraf, lag doch ein ausführliches Fax mit folgenschwerem Inhalt auf seinem Schreibtisch. Erwin Beck berichtete aus Tübingen, dass es ihnen am späten Montagabend gelungen war, Fingerabdrücke, die Markus Schöffler in dem morgens aufgefundenen Taxi entdeckt hatte, als die des mehrfach verurteilten Gewaltverbrechers Georg Almader zu identifizieren. Zu gleicher Zeit hatte Helmut Rössle es in einem erneuten Durchgang möglich gemacht, Almaders Spuren auch in der
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