Schwaben-Hass
vorsichtig um, studierte die Reaktion der Passanten. Niemand achtete auf sie, alle hatten es eilig.
Was jetzt?
Zur Polizei gehen, sich verhaften lassen? Der Albtraum der Diskussion heute nacht: Sie wusste, wie schwer es ihr fallen würde, angesichts der kaum nachvollziehbaren Ereignisse die Wahrheit zu erklären.
Zwei kräftige Jungen in Sportkleidung spurteten auf sie zu, ließen sich mit lautem Schreien auf die Bank der Bushaltestelle fallen.
Sie musste weg, raus aus der Stadt. Das mit der Polizei hatte Zeit. Zuerst sich selbst in Sicherheit bringen. Sie wusste genau, wo.
Es gab einen Weg, eine Chance. Alle Bahnhöfe konnten sie nicht überwachen, dazu brauchten sie ein ganzes Heer von Spitzeln. Oder waren sie so mächtig? Sie musste das Risiko eingehen.
Michaela König riss sich vom Anblick des Plakates los, folgte der Langen Gasse in die Fußgängerzone. Unterwegs, am Bankautomaten Geld holen. Noch war ihr Konto nicht gesperrt. Dann kreuz und quer Richtung Weststadt. Weg von den breiten Straßen, rein in die schmalen Gassen. Jedes Mal, wenn ein Auto vorbeifuhr, zuckte sie zusammen. Ihr Gang wurde automatisch schneller, der Schweiß lief in Strömen. Nach zehn Minuten hatte sie den Westbahnhof erreicht.
Sie drückte sich in eine Nische neben dem urigen Lokal im Anbau des Stationsgebäudes, suchte den Bahnsteig mit ihren Augen ab. Zwei Frauen, drei Männer. Beladen mit Körben und Taschen, einem Rucksack. Unverdächtig.
Sie blieb in ihrer Nische, wartete, bis der Zug einfuhr, spurtete erst dann los. Keine Reaktion.
Der Zug, ein moderner Triebwagen, war gut besetzt. Sie lief nach vorne in Richtung Fahrer, suchte einen freien Platz. Das Sweat-Shirt klebte auf ihrer Haut. Sie nahm den Rucksack ab, tupfte sich mit einem Taschentuch den Schweiß vom Hals.
Der Zug hielt auf allen Bahnhöfen, zuckelte langsam das Ammertal hoch. Auf dieser Strecke dauerte die Fahrt mehr als doppelt so lange. Egal. Hauptsache, sie entkam ihnen, konnte wieder in Ruhe leben. Sie lehnte sich zurück, döste langsam ein.
Die Stimme eines Mannes riss sie aus ihrem Dämmerschlaf. Erschrocken starrte sie zu ihm hoch.
»Verzeihung«, bat er freundlich, »ich sollte Ihre Fahrkarte sehen.«
Sie kramte in ihrer Hosentasche, zog Geldscheine, Münzen, ein Taschentuch hoch. Auf der anderen Seite Schlüssel, Pfefferminzpastillen, einen Labello-Stift. Sonst nichts. »Ich fahre nach Stuttgart«, erklärte sie und begann, in ihrem Rucksack zu suchen.
»Stuttgart«, sagte der Kontrolleur, »da müssen Sie in Herrenberg umsteigen.«
Sie stellte den Rucksack auf den Kopf, kippte seinen Inhalt auf den kleinen Tisch. »Ich weiß. Ich muss zuzahlen. Meine Fahrkarte aus dem Automaten …« Plötzlich fiel es ihr wieder ein. Sie hatte die Szene plastisch vor Augen. Die vornehme ältere Dame, die vom Zug her auf sie zukam, der Mörder mit seinen breiten Koteletten, die Fahrkarte in ihrer rechten Hand. Dann der Moment, als sie die Frau an der Schulter packte und sie mit aller Kraft von sich weg stieß. Irgendetwas, ein kleiner Zettel, flatterte durch die Luft. Die Fahrkarte …
»Ja?«, fragte der Kontrolleur.
Sie zückte einen Schein, zeigte ihre Bahncard. »Einmal Umweg nach Stuttgart«, sagte sie.
16. Kapitel
Das Material über den Minister bestand aus einer umfangreichen Sammlung von Zeitungsartikeln und computergeschriebenen Texten, die das politische Wirken und das Privatleben des Mannes teils kritisch begleiteten, teils vorwurfsvoll in Frage stellten. Stück für Stück waren die wunden Punkte des Mannes aufgeführt und die im Verlauf eines langen Politikerlebens recht zahlreichen Verfehlungen akribisch aufgelistet.
Breidle oder wer immer diese Sammlung angelegt hatte, musste Monate damit verbracht haben, dermaßen viele Quellen über ein und dieselbe Person zu erschließen. Die Absicht, die hinter der umfangreichen Arbeit stand, trat Blatt für Blatt unübersehbar zu Tage: Den Minister zu demontieren, ihn politisch zu erledigen.
Und jetzt war der Besitzer dieser brisanten Sammlung tot, ermordet von einer Person, der er – aus welchen Gründen auch immer – im Weg gestanden hatte. War sein widernatürlicher Tod also die Konsequenz seiner aufwendigen journalistischen Arbeit? Wo anders als im unmittelbaren Umfeld des Politikers sollten sie nach dem Mörder suchen?
Steffen Braig spürte den ersten Anflug mittäglicher Müdigkeit, stand von seinem Stuhl auf, lief zur Kaffeemaschine. Er war sofort nach seiner Rückkehr aus Breidles Büro bei
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