Schwaben-Hass
Obstbäume und Weinreben, erreichte die Spitze des Berghangs. Sie verharrte im Dunkeln, wartete darauf, dass ihr Herz sich beruhigte. Keine zehn Meter entfernt erhob sich ihr Märchenschloss.
Michaela König tastete die gesamte Umgebung mit ihren Blicken ab, musterte den Garten, das Umfeld des Eingangs, das Haus. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, nahmen fast jede Bewegung der Büsche und Äste wahr. Im zweiten Stockwerk des Gebäudes brannte Licht, ein Körper bewegte sich hinter einem Vorhang hin und her. Wahrscheinlich hatte er wie früher die beiden unteren Wohnungen vermietet. Sie musterte die Fenster ganz oben; kein noch so fahler Lichtschein, keine Bewegung, kein Leben. Es schien, als sei die Wohnung leer, unberührt von ihren Verfolgern. Oder warteten sie nur im Dunkeln?
Sie glaubte es nicht, versuchte, sich selbst Mut zu machen. Sie konnten es nicht wissen, hatten keine Möglichkeit gehabt, das Haus und die Wohnung ausfindig zu machen. Unmöglich. Sie musste es jetzt versuchen, es gab keinen anderen Weg.
Michaela König schlich sich vorsichtig zur Haustür, erschrak, als sie jenseits der Mauer ein Auto auf der Hasenbergsteige hörte. Das Geräusch schwoll an, erreichte einen kurzen Höhepunkt, entfernte sich langsam, verstummte dann nach wenigen Sekunden. Sie blickte sich vorsichtig um, bemerkte einen Schatten. Erschrocken blieb sie stehen.
Ein Windzug fuhr in die Äste, ließ den Schatten in Bewegung geraten. Eine Plastiktüte verfing sich an einem Zweig, wedelte in der Luft hin und her. Michaela König spürte das Pochen ihres Herzens, lief zur Haustür, versuchte, das Zahlenfeld neben den Klingelknöpfen zu erkennen. Schemenhaft nahm sie die Ziffern wahr, gab den Code langsam ein.
Die Tür schwang leise summend zurück, gab ihr den Weg ins Treppenhaus frei. Für einen Moment blieb sie stehen, musterte noch einmal die Umgebung des Gebäudes, drückte sich dann ins Innere, schloss die Tür.
Das Treppenhaus empfing sie mit dem gewohnten Geruch. Altes Holz, Bienenwachs, Bodenpolitur. Sie stieg vorsichtig die Stufen hoch, hörte die Musik im ersten Obergeschoss. Mozart. Fidelio. Sie kannte das Tremolo, erinnerte sich, dass er damals davon gesprochen hatte, ein Stockwerk an einen dem Haus völlig verfallenen Musiker vermieten zu wollen. Die Klänge, gedämpft zwar, doch alle anderen Geräusche übertönend, erfüllten das ganze Haus. Sie spürte die Anspannung, drückte sich langsam, wie in Zeitlupe, nach oben.
Der Eingangsbereich war unverändert. Ein großer, breitbauchiger Blumentopf, die kleine silberne Gießkanne, der Fußabstreifer mit den beiden Papageien, selbst im Dunkeln deutlich zu erahnen. Michaela König schob sich auf Zehenspitzen zur Wohnungstür, wartete. Fidelio, jagender Puls, zittrige Beine. Sie blieb stehen, drückte ihr linkes Ohr an die Tür.
Ein leichtes Rauschen, Fidelio, sonst nichts.
Sie wusste nicht, wie lange sie gewartet hatte. Irgendwann, nach mehreren Minuten, bediente sie die Tastatur, drückte die Tür vorsichtig nach innen, starrte durch den Spalt in die dunkle Diele. Der altvertraute Geruch der Wohnung zog ihr in die Nase. Wieder das Holz, das Wachs, die Politur.
Sie wartete einen Moment, konnte nichts Ungewöhnliches wahrnehmen, schob sich in die Diele, schloss leise die Tür. Kein fremder Geruch, kein alarmierendes Geräusch. Sie schlich sich von Zimmer zu Zimmer, kontrollierte die ganze Wohnung, sogar – durch die Scheiben hindurch – den Balkon. Niemand in den Schränken, kein Fremder unter dem Bett. Alles schien in Ordnung.
Michaela König sammelte ihre Habseligkeiten zusammen, packte alles in den kleinen Rucksack, lauschte. Fidelio war verstummt, dafür setzte eine andere klassische Kreation ein, noch gedämpfter in der Lautstärke, angenehm in Rhythmus und Klang, vielleicht Verdi oder Rossini, sie wusste es nicht. Sie spürte, wie sich ihre Nerven langsam beruhigten, der Stress, die Angst, das Zittern in ihr nachließen, fühlte die bleierne Müdigkeit in sich. Sie starrte auf das Ziffernblatt ihrer Armbanduhr. Zehn vor Elf. Zeit, ins Bett zu gehen.
Michaela König lief zum Schlafzimmer, betrachtete den dunklen Raum. Ob sie es wagen konnte? Wenigstens drei, vier Stunden und dann rechtzeitig noch in der Dunkelheit verschwinden?
Sie wusste es nicht, wollte das Risiko nicht eingehen.
Dann in ein Hotel?
Sie hatte Angst vor den dunklen Straßen, Angst vor fremden Gebäuden. Woher wollte sie wissen, ob sie nicht sogar Hotels überwachten?
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