Schwaben-Herbst
schließlich hatte er einen Teil seiner Zeit mit seiner Freundin Julia verbracht und das sicher nicht nur mit gemeinsamem Schachspiel.
»Warum fragen Sie ihn nicht nach Lukas? Er weiß garantiert besser als wir, wo unser Sohn sich aufhält«, sagte Ursula Feiner.
Neundorf erhob sich von ihrem Platz. »Das geht leider nicht«, erwiderte sie. »Andreas Sattler wurde heute Nacht ermordet.« Sie betrachtete die Frau, sah, wie sie erschrak und mit weit aufgerissenen Augen zu ihr hoch starrte.
»Um Gottes Willen.« Ursula Feiner atmete schwer. »Und weshalb wollen Sie mit Lukas sprechen?«
»Er hat ihn bedroht«, erklärte die Kommissarin, ihre Gesprächspartnerin unmittelbar vor Augen. »Bedroht und sich dann auch noch verdächtig verhalten.« Sie sah, wie die Gesichtszüge der Frau erstarrten. Sie traut es ihm zu, überlegte sie, sie geht davon aus, dass er es war. Ihr eigener Sohn.
E RSTE O KTOBER -H ÄLFTE
1.
Es war purer Zufall, dass er die Zeitung in die Hand genommen hatte. Normalerweise mutete er sich das nicht zu. Nichts als Politikergezänk, hohle Phrasen, wichtigtuerisches Gelaber. Lesen, das war reine Zeitverschwendung. Wenn ihn überhaupt etwas interessierte, war das Sport. Die Seiten im hinteren Teil.
Aber normalerweise nahm er nicht einmal die in die Hand. Bis die Ergebnisse in der Zeitung standen, waren sie schon veraltet. Lieber verfolgte er die Ereignisse im Fernsehen. Er hatte genügend Sender zur Verfügung. Da bekam er alles live mit. Den Kameras entging nichts. Sie übertrugen jeden Atemzug der beteiligten Sportler, ihren Einsatz, ihr Engagement, den Erfolg oder Misserfolg. Sieg oder Niederlage, alles. Lediglich die Stimmung, die Atmosphäre ging ihm dabei ab. Der gemeinsame Jubel, wenn der Favorit des Publikums in Führung ging. Das kollektive Raunen, wenn es zur Entscheidung kam. Das Heulen, Jammern und Schreien aus Tausenden von Kehlen, wenn die Rivalen davonzogen. In der Glotze kam das nicht so recht rüber. Allein mit sich, der Mattscheibe und einer Ladung Bier ging da stimmungsmäßig nur wenig ab. Zwar übertrugen die Lautsprecher auch das Geschrei der Zuschauer, zeigten für ausgewählte Augenblicke ihre schreckverzerrten Mienen oder siegestrunkenen Gesichter, doch zu Hause blieb er dennoch ein Stück weit außen vor, fühlte sich bei weitem nicht in dem Ausmaß ergriffen wie im weiten Rund des Stadions oder der Zuschauertribüne – mochte der Bildschirm auch noch so groß sein. Der Funke wollte einfach nicht überspringen.
Deshalb war auch die Glotze nur eine Notlösung – es sei denn, er lud Freunde ein. Im Kreis gemeinsamer Begeisterung ließ sich das Geschehen weit intensiver miterleben. Der Sieg des eigenen Idols etwa. Allerdings auch eine Niederlage. Kein Wunder, dass die dann in viel größerem Ausmaß an die Nieren ging.
In diesem Zusammenhang hatte er zu der Zeitung gegriffen. Irgendeiner aus der Runde musste das Blatt mitgebracht haben. Mittags, beim Aufräumen der Wohnung war es ihm in die Hand gefallen. Am Mittwoch, dem 3. Oktober. Nationalfeiertag. Arbeitsfrei. Eine wunderbare Gelegenheit, sich auch unter der Woche eine durchzechte Nacht zu gönnen.
Sie hatten den Feiertag genutzt, sich am Dienstag ab 20 Uhr bei ihm zu treffen. Platz war genug, der neue Flachbildschirm fast halb so groß wie die ganze Wand, Essen und Getränke ausreichend vorhanden. Jeder hatte angeschleppt, soviel er konnte. Der eine mehr, der andere weniger. Genug für ein fulminantes Zechgelage, wie sich am frühen Morgen gezeigt hatte. Einzig das Problem mit den Nachbarn, dem einen Nachbarn genauer. Wieder einmal hatte es nichts genützt, dem Mann gut zuzureden, obwohl sie sogar bereit gewesen waren, ihn einzuladen und mitfeiern zu lassen. Er hatte trotzdem mit dem Anruf bei der Polizei gedroht. Wegen Lärmbelästigung oder ähnlichem Larifari.
Erst als der dicke Roland persönlich zur Tür gewankt war und die Sache übernommen hatte, in schon leicht lallendem Ton zwar, aber doch recht eindrücklich, war der Mann einsichtig geworden. Der dicke Roland, bei dessen Anblick allein jeder Respekt bekam. Die Bullen anrufen, das solltest du dir lieber zehn als nur drei Mal überlegen, hatte der dicke Roland erwidert. Die sind bald wieder fort, aber ich bin dann noch da. So war dann also doch Stimmung aufgekommen, und sie hatten bis zum frühen Morgen durchfeiern können. Nationalfeiertag. Eine wirklich feine Sache.
Am Mittag dann, gegen 14 Uhr, war ihm die Zeitung in die Hände geraten. Die dicke
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