Schwaben-Herbst
Überschrift, das Foto, der erklärende Text. Er hatte ihn sofort erkannt, obwohl es sich nicht um das neueste Foto gehandelt haben konnte. Student vor dem Elternhaus erschossen. Andreas S. in Reutlingen ermordet.
Das Zittern hatte sich innerhalb weniger Sekunden über seinen ganzen Körper verbreitet. Andreas S. Das Foto verriet genug, um zu begreifen, um wen es sich handelte. Sattler. Ohne jeden Zweifel. Andreas Sattler. Vor seinem Elternhaus ermordet.
Er hatte mehrere Minuten gebraucht, sich so zu beruhigen, dass er sich imstande sah, den Text zu lesen. Vor Aufregung waren ihm dabei die Zeilen mehrfach durcheinander geraten. Vier oder fünf Mal hatte er sich so verhaspelt, dass er von vorne beginnen musste. Erst nach einer Viertelstunde etwa war ihm langsam aufgegangen, in welcher Weise Sattler ins Jenseits befördert worden war. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten, als ihm der Sachverhalt vollends deutlich wurde. Der Täter hatte seinem Opfer vor dessen Tod Gesicht und Scham mit konzentrierter Salzsäure traktiert, den vor höllischen Schmerzen schreienden Mann dann mit zwei Schüssen aus nächster Nähe getötet. Ein einzigartig grauenvolles Verbrechen. Eine Bestie von Mensch, wer so etwas tat, wie die Zeitung schrieb. Salzsäure ins Gesicht und auf die Hose.
Er wusste sofort, wer dahintersteckte. Es gab keine andere Möglichkeit. Nicht der Hauch eines Zweifels, dass jemand anderes dafür infrage kam. Salzsäure auf die Hose. Er hatte es damals schon in diesen Augen gesehen. Den Augen, die fast zu Tode verletzt, dennoch nicht nur von Scham, sondern von Rache und Hass erfüllt waren. In denen selbst in jenem Moment nicht nur die Angst, sondern auch der Wille nach Leben geglüht hatte. Nach Vergeltung, wie jetzt klar geworden war.
Was hatte er Sattler gewarnt, angebettelt, darauf aufmerksam gemacht, die Öffentlichkeit in den Folgemonaten zu meiden. Auf alles zu verzichten, was Aufsehen erregen, die Presse, das Fernsehen, überhaupt Journalisten neugierig machen könnte. Neun Monate hatte der Kerl stillgehalten, seiner Gier nach Ruhm, der Sucht nach Beifall widerstanden – dann war es geschehen. Er erinnerte sich noch genau des Momentes vor etwa zwei Monaten, als einer seiner Freunde, eine Zeitung in der Hand, die Wohnung gestürmt hatte. Ist das nicht Sattler, dein alter Kumpel, war er auf ihn zugekommen.
Er hatte das Bild betrachtet, ihn sofort erkannt. Sattler, wie er leibt und lebt, ein Schachbrett vor sich, voller Konzentration auf die Figuren gaffend. Andreas Sattler Sieger beim Stuttgarter Schachturnier.
Dieser Vollidiot, hatte er sofort gewusst. Dieser öffentlichkeitsgeile Hornochse. Dieses hirnrissige Rindvieh.
Wie viele Blätter seine Visage wohl präsentierten? In welcher Auflage seine Fresse verbreitet wurde? Hätte er auffälligere Spuren zu sich – und damit natürlich auch zu ihm – legen können?
Wer beachtet den Vollidioten schon, hatte er sich zu trösten versucht, wer schenkt seiner Visage Aufmerksamkeit? Gibt es Leute, die so dämlich sind, ihre Zeit – und seien es auch nur ein paar Sekunden – diesem Volltrottel zu widmen?
Es gab sie, wie er jetzt wusste und von Anfang an befürchtet hatte, es gab sie und genau die eine Person, die die Fotos nicht hätte sehen dürfen, auf keinen Fall, die hatte sie entdeckt. Wie und wo auch immer. Und das, was ihm von Anbeginn an klar war, war geschehen: Sie hatte sie nicht nur entdeckt, sondern auch die Konsequenzen gezogen. Die einzigen Konsequenzen, die in den nach Vergeltung lechzenden Augen zu erkennen gewesen waren. Salzsäure ins Gesicht und auf die Hose.
Es gab keine andere Möglichkeit. Sattler, der Vollidiot, hatte selbst den Anlass dafür geliefert. Die Fotos in den Zeitungen.
So musste es gewesen sein. So und nicht anders.
2.
Gegen 23 Uhr am Abend des 3. Oktober war es einer Streife der Schutzpolizei gelungen, den zur Fahndung ausgeschriebenen Lukas Feiner beim Betreten seiner Wohnung in Nürtingen festzunehmen. Der Mann hatte das Ansinnen der beiden Beamten überrascht zur Kenntnis genommen, sich jedoch ohne Gegenwehr abführen lassen.
Die Nachricht des erfolgreichen Zugriffs wurde Neundorf gegen 6.30 Uhr am nächsten Morgen durch einen Anruf des Kollegen Weisshaar zuteil. Die Kommissarin nahm die Information erleichtert zur Kenntnis, schälte sich müde aus dem Bett. Sie spürte die Anstrengungen des Feiertags, den sie zum großen Teil gemeinsam mit ihrem Sohn und ihrer Mutter im Altenheim in Großheppach
Weitere Kostenlose Bücher