Schwaben-Wahn
er zu einer Erklärung ansetzte. »Herzog wagte es, mir den Mittelpunkt meines Lebens vorzuenthalten. So sah ich es jedenfalls damals. Deshalb geriet ich in heiligen Zorn und bedrohte ihn.«
»Sie hatten einen Unfall.«
»Unfall? Ja, so wird das heute heuchlerisch umschrieben. Ich fuhr eine Frau an, die die Straße überqueren wollte. So wie das jeden Tag in diesem Land mehrere hundert Mal geschieht. Mein Versuch, mich unerkannt davonzustehlen, schlug fehl. Dreihundert Meter weiter raste ich an einer automatischen Überwachungskamera vorbei und wurde geblitzt. Die genaue Uhrzeit, das deutlich lesbare Kennzeichen, mein in den Konturen erkennbares Gesicht: Ich war geliefert.«
»Sie erhielten fünf Monate auf Bewährung.«
»Ja«, bestätigte Meurer, »und die Frau lebenslänglich. Sie ist querschnittsgelähmt.«
Braig, der gerade zu seinem Glas hatte greifen wollen, hielt mitten in seiner Bewegung inne, starrte den Erzählenden überrascht an. »Durch Ihren ...« Er brach ab, sah das heftige Kopfnicken Meurers.
»Glauben Sie, das hätte mich zur Vernunft gebracht?« Er ließ ein bitteres Lachen vernehmen, bewegte sein linkes Bein ungelenk hin und her. »Ich hatte nur einen Gedanken: möglichst schnell wieder hinters Steuer zu kommen. Mein BMW stand schließlich vor dem Haus. Frisch repariert, von der kleinen Beule befreit.«
»Und dann verweigerte Herzog Ihnen diesen Wunsch.«
»Ich musste mich bei ihm melden zum Gespräch. Drei oder vier Mal. Und dann schrieb er sein Gutachten. ›Potenzieller Wiederholungstäter ohne jeden Ansatz von Reue und Bereitschaft zu einer Verhaltensänderung.‹ Er hatte die Sache vollkommen richtig erfasst. Besser hätte man meinen Zustand nicht beschreiben können.«
»Damals sahen Sie das aber nicht so«, wandte Braig ein.
»Wie auch?«, erwiderte Meurer. »Was sind die Ideale dieser Gesellschaft? Wozu werden Sie bei uns erzogen? Zu Rücksicht, Verantwortung, Anteilnahme am Schicksal anderer?« Er schaute fragend zu ihm hin. »Was dröhnt Tag und Nacht von allen Seiten auf uns ein? Selbstverwirklichung, Unabhängigkeit, Mobilität, optimale Ausbildung der eigenen Persönlichkeit, Realisierung aller Wünsche. Ich, ich, ich. Wie viele PS sind nötig für diese Egomanie? Der Wahn hatte mich ergriffen, der ganz normale Wahn dieser Gesellschaft.«
»Sie haben Karl Herzog bedroht, nachdem sein Gutachten negativ ausgefallen war.«
»Ich war ein widerlicher Mensch, ich erwähnte es schon. Wenn das nicht passiert wäre«, er deutete auf sein linkes Bein, »ich wäre es heute noch.«
Braig sah, wie er schwerfällig zur Seite rutschte, sein Bein mühsam hinter sich her bewegte. »Sie hatten einen Unfall?«
»Unfall«, schimpfte Robert Meurer, »schon wieder dieses unpassende Wort. Ein völlig normales Ereignis, das zu diesem System gehört wie unsere von Blech übersäten Städte. Diesmal war ich nicht einmal selbst schuld. Ein Lastwagen scherte aus seiner Spur aus, drückte mich auf die Seite.«
»Ein Lastwagen?«, fragte Braig, das Bild des vorigen Abends vor Augen.
»Der Fahrer hatte einen Herzanfall erlitten, wurde während der Fahrt ohnmächtig. Dass ich lebend davonkam, ist ein Wunder. Von meinem Fahrzeug blieb nicht viel übrig.«
»Wann war das?« Er hatte Mühe, sich zu konzentrieren, sah den sich nähernden Lieferwagen, hörte das schrille Kreischen der Bremsen ...
»Vor drei Jahren«, antwortete Meurer, »auf einem neuen, erst wenige Wochen vorher vierspurig ausgebauten Abschnitt der B 29. Ohne meine Frau hätte ich es nicht gepackt.«
Braig versuchte, sich vollends von seinen Erinnerungen zu lösen, das Gespräch auf den zentralen Punkt zu bringen. »Wann haben Sie Karl Herzog zum letzten Mal gesehen?« Er musterte sein Gegenüber, ließ Meurer nicht aus den Augen.
»Vor zwei Jahren etwa. Ich habe mich bei ihm und seiner Frau entschuldigt.«
»Entschuldigt?«
»Ja. Für mein Verhalten, meine Drohungen, die bösen Briefe, meine Verleumdungen.«
Braig starrte den Mann überrascht an. »Sie haben sich persönlich mit ihm getroffen?«
»Ich schrieb ihm einen langen Brief, schilderte ihm meinen Unfall, die Tatsache, dass ich mein Bein nie mehr richtig werde bewegen können und dass ich erst jetzt begriffen habe, was ich selbst verbrochen hatte, und bat ihn um eine Aussprache.«
»Herzog nahm an?«
»Er telefonierte sofort, nachdem er den Brief erhalten hatte. Er freute sich über meine Zeilen, wollte sehen, ob ich es wirklich ehrlich meinte. Wir trafen uns ein paar
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