Schwaben-Wahn
hatten. »Dann sollten wir uns schnell um einen Termin in Sindelfingen bemühen«, sagte er, »die Dame kam mir gestern schon etwas seltsam vor.«
»Das habe ich schon getan«, erklärte Neundorf, »unmittelbar bevor ich dich anrief. Um vierzehn Uhr steht Stefanie Herzog uns zurVerfügung – unter Protest, wie sie extra betonte. Was wir schon wieder wollten, ob ich mir nicht vorstellen könne, was eine Beerdigung alles an Mühe und Vorbereitung erfordere. Du gehst mit?«
Braig sagte zu, verabschiedete sich von seiner Kollegin. Stefanie Herzog, überlegte er, waren sie jetzt endlich auf der richtigen Spur? Er spürte das Hämmern hinter seiner Schläfe, hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Die verwundete Stelle, dort, wo er von irgendeinem spitzen Gegenstand getroffen worden war.
Braig atmete tief durch, tastete mit seiner Rechten vorsichtig den Verband über seinem Haaransatz ab. Die Wunde schmerzte stärker als ihm lieb war; das Hämmern verbreitete sich fast überall in seinem Kopf. Er lehnte sich in seinem Sitz zurück, wartete, dass die Schmerzen abklängen. Vielleicht habe ich meinen gesundheitlichen Zustand doch überschätzt, warf er sich vor, die Warnungen Ann-Katrins und der Kollegen nicht ernst genug genommen. Er tastete die Partie um den Verband ab, massierte sie vorsichtig mit den Fingerspitzen. Langsam verlor das Hämmern an Intensität.
Braig sah, wie der Zug in den Stuttgarter Hauptbahnhof einfuhr, richtete sich langsam auf. Ein kurzes Stechen hinter der Schläfe, ein leichtes Schwindelgefühl, dann hatte er sich wieder im Griff. Er betrat den Bahnsteig, sah auf einer Uhr, dass es zwanzig nach elf war, lief zur Nordseite des Bahnhofs, überquerte den Vorplatz. Die Luft schien zu stehen, die Sonnenstrahlen prallten ungehindert auf den heißen Asphalt. Schweißperlen krochen ihm über den Rücken, flossen über die Stirn. Er benötigte keine drei Minuten bis zur Bank, nahm erleichtert die klimatisierte Atmosphäre im Inneren des Gebäudes wahr.
Tobias Roller war leicht zu finden. Es handelte sich um einen freundlichen älteren Mann mit langen, angegrauten Haaren, einer breiten, etwas altmodisch anmutenden Brille und einem schmalen Gesicht mit roten Backen, also in keiner Weise der Typ des Bankers, den Braig insgeheim erwartet hatte. Er trug trotz der Hitze einen hellgrauen Anzug samt Jacke, dazu ein weißes Hemd und eine bunte Krawatte, hieß seinen Besucher willkommen, bot ihm einen Platz in einer Sitzecke an. »Ich bin völlig aufgeregt«, erklärte er, »seit ich das heute Morgen von Karl in der Zeitung las, ist es mit meiner inneren Ruhe vorbei. Wer kann das getan haben – Karl ist«, er schüttelte nervös seinen Kopf, »nein, er war so ein guter Mensch. Er konnte keiner Fliege auch nur ein Haar krümmen.«
»Sie kannten ihn gut?« Braig setzte sich auf einen der Stühle, sah, wie Roller fragend auf eine Wasserflasche zeigte, nickte bestätigend mit dem Kopf. Die Hitze veranlasste den Körper, jeden aufgenommenen Tropfen sofort zu transpirieren, ließ ein unablässiges Durstgefühl entstehen.
Roller schenkte zwei Gläser ein. »So gut jedenfalls, dass er mir manchmal, wie sagt man so schön, sein Herz ausschüttete. Ja, ich glaube, das ist der richtige Ausdruck.«
»Dann müssen Sie ihn wirklich gut gekannt haben«, folgerte Braig, »das macht man normalerweise nur bei ausgewählten Menschen.« Er nahm das Glas entgegen, bedankte sich.
»Ja, das ist richtig. Ich denke, wir hatten beide genau denselben Ruhepol im Leben. Das verband uns über alle Unterschiede hinweg.«
Braig erinnerte sich an das kurze Telefonat mit dem Mann, wusste, was er meinte. »Sie reden von der Musik.«
»Mozart«, betonte Roller, »Wolfgang Amadeus Mozart. Das ist unsere Passion, die Quelle, aus der wir neue Kraft schöpfen.«
»Sie besuchten gemeinsam Konzerte.«
»Wann immer es möglich war, ja. Ich bin verwitwet, wissen Sie, meine Frau starb vor fünf Jahren und ich habe wenige Menschen, mit denen ich meiner Leidenschaft frönen kann. Karl Herzog ist, entschuldigen Sie, er war einer der ganz wenigen. Er wird mir fehlen. Mozarts Kompositionen gemeinsam genießen zu dürfen ist ein besonderes Geschenk des Schicksals.«
»Was sagte Herzogs Frau dazu, dass Sie ihren Mann ins Konzert begleiteten? Ich meine, normalerweise geht man doch mit seinem Partner, vor allem, wenn es sich um so ein besonderes Erlebnis handelt.«
Roller strich sich über die Haare, ließ sich für seine Antwort Zeit. »Mir fällt nicht
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