Schwaben-Wahn
Eskapaden er ständig erzählte, wusste, wie gut sie sich mit dem Mann verstand. Er freute sich, dass sie zusammen eingeteilt waren.
»Ich führe gerade das erste Gespräch mit meinem neuen Handy«, antwortete er, »es scheint in Ordnung.«
»Das freut mich«, sagte sie, »und wie steht es mit deinen Schmerzen? Wärst du nicht besser zu Hause geblieben?«
»So schlimm ist es nicht. Ich hoffe, wir kommen vorwärts. Wenn ich es nicht durchhalte, melde ich mich ab. Bis jetzt sehe ich aber keinen Grund ...« Er hörte, dass sie laut aufschrie, stoppte mitten im Satz. Aus dem Hintergrund war eine männliche Stimme zu vernehmen, kurz darauf die Ann-Katrins. Sie schienen aufgeregt miteinander zu diskutieren, waren ganz auf das Geschehen um sie herum konzentriert. Plötzlich hatte er wieder die Stimme seiner Freundin am Ohr. »Ich muss aufhören«, sagte sie, »wir sind da. Es sieht grauenvoll aus.«
»Verletzte?«, fragte er.
Sie reagierte nicht gleich. Er hörte das Schlagen von Autotüren, lautes Rufen, dazu die verzweifelten Schreie verschiedener Menschen. »Mach’s gut«, verabschiedete sie sich dann, »das ist ein wahres Blutbad. Ich weiß gar nicht, was wir zuerst tun sollen.« Die Verbindung war unterbrochen.
Braig sah die Tasse in seiner Hand, wusste nicht, was er damit sollte. Die Lust, einen Kaffee zu trinken, war ihm vergangen. Unwillkürlich befand er sich mitten im Geschehen des Vorabends: Er stand am Rand der Straße, sah den Lieferwagen mit hohem Tempo näher kommen, hörte das schrille Kreischen der Bremsen. Das Fahrzeug prallte auf seinen Dienstwagen, verlor die Balance und kippte zur Seite, begrub das Auto, das er wenige Sekunden zuvor verlassen hatte, unter sich. Ohrenbetäubendes Krachen und Knirschen tobte in seinem Kopf, er glaubte Metallteile und Glassplitter rings um sich durch die Luft fliegen zu sehen, spürte die Schwindel, die ihm sein Bewusstsein zu rauben drohten. Braig torkelte durch sein Büro, suchte am Waschbecken Halt. Er brauchte eine Weile, wieder zu sich zu finden, stellte seine Tasse auf dem Seitenbord des Beckens ab.
Nein, dachte er, Ann-Katrins Dienstbeginn schien unter keinem guten Stern zu stehen. Ein oder mehrere verletzte Menschen auf der Straße – er wusste aus eigener Erfahrung, wie das aussah, wie dieses Bild ins Bewusstsein des Betrachters eindrang und sich im Gedächtnis festfraß, so sehr man sich dagegen auch wehrte. Polizeibeamtinnen und -beamte, Sanitäter, Pfleger und Ärzte waren jeden Tag damit konfrontiert – in einem Ausmaß, das kein Außenstehender je begreifen konnte. Welche Folgen das für die berufsmäßig zur Hilfe verpflichteten Personen hatte, wie sich das Gift dieser Bilder in ihre Psyche implantierte, ihr seelisches Heil belastete, ja zerstörte, wussten nur die Betroffenen selbst zu beurteilen, deren stilles Leiden allen aufwändigen Therapien zum Trotz oft genug in Alkoholsucht, Beziehungsproblemen oder Suizid endete.
Das auffällige Fiepen des Faxgeräts riss Braig aus seinen Gedanken. Der Apparat tuckerte leise, warf zwei Blätter aus. Es handelte sich um die Mitteilung der Tübinger Kollegen, die Fingerabdrücke in dem am letzten Samstagabend gestohlenen Fahrzeug seien identifiziert und die ermittelte Person verhaftet worden: Hans Posch, ein fünfundzwanzigjähriger Mann aus Reutlingen, habe bereits gestanden, das Mädchen auf dem Fahrrad angefahren zu haben. Ein Johannes Wangbiehler sei in den Fall nicht involviert.
Braig nahm den Sachverhalt überrascht wahr, wusste nicht, ob er sich eher enttäuscht oder erleichtert fühlen sollte. Wangbiehler, etwa zu dem Zeitpunkt aus der Tübinger Privatklinik entflohen, als das Kind nur wenige Meter entfernt von einem rücksichtslosen Autorowdy schwer verletzt worden war, sollte mit dieser Gewalttat nicht in Verbindung stehen? Er konnte es nicht glauben, hatte bereits zu viele Horrorstorys über den verwahrlosten jungen Industriellenspross gehört, um die Information gerade so hinzunehmen. Lag es an einem Versehen der Tübinger Kollegen oder hatte sich Wangbiehler über seinen fast allmächtigen Vater von der Tat freigekauft, dass plötzlich ein anderer als Verbrecher präsentiert wurde? Dem Unternehmer, so wie er ihn kennen gelernt und erlebt hatte, traute er inzwischen sehr viel zu. Alles nur unberechtigte Vorurteile?
Braig packte seine Sachen zusammen, machte sich auf den Weg zur unweit vom Landeskriminalamt gelegenen Stadtbahn-Haltestelle
Kienbachstraße
, um Robert Meurer in Plochingen
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