Schwaben-Wahn
Felsentretter, das Kennzeichen zu wiederholen.
»Vergiss es«, maulte der schwergewichtige Kollege, »du kommst doch nicht drauf.« Er warf das Papier auf den Schreibtisch, trat einen Schritt vor. »Es ist Zufall, purer Zufall, dass ich es entdeckt habe.«
»Um was geht es?«
»Letzten Sonntag kurz vor vierzehn Uhr wurde in der Lorcher Straße in Wäschenbeuren ein Kind, das mit seiner Familie unterwegs war, auf seinem Fahrrad von einem Auto angefahren. Das elf Jahre alte Mädchen wurde schwer verletzt.«
Braig betrachtete die angespannte Miene des Kollegen, verstand nicht, in welchem Zusammenhang der Vorfall mit ihren Ermittlungen stehen sollte. Auf deutschen Straßen, so hatte er einem neuen Bericht entnommen, wurde alle fünfzehn Sekunden ein Kind von einem Auto angefahren und schwer verletzt – das war alltägliche Praxis. Er blieb ruhig, wartete auf weitere Erklärungen.
»Nachforschungen der örtlichen Beamten führten heute Morgen zum Fahrzeug des flüchtigen Täters: Ein roter Ford Escort mit Göppinger Kennzeichen. Hier stehen die gesamten Ziffern, wenn es dich interessiert.« Felsentretter deutete auf das Blatt, das er auf den Schreibtisch gelegt hatte. »Bei einem zufälligen Datenvergleich bekam ich es vorhin auf den Bildschirm.«
»Ein roter Ford Escort?«
»Demski«, donnerte Felsentretter, »so heißt der Besitzer des Karrens.«
»Demski?«, vergewisserte sich Braig. »Sven Demski?«
»Genau der. Die Kollegen haben ihn vorhin verhaftet.«
Braig erinnerte sich an die schmuddelige, klein gewachsene Gestalt des Mannes, hatte sofort wieder den stechenden Geruch nach Schweiß, Bier und ungewaschenen Füßen in der Nase, der von dem Mann ausgegangen war. Dass Demski ohne jedes Verantwortungsbewusstsein über die Straßen bretterte, traute er ihm sofort ohne jeden Vorbehalt zu.
Felsentretter hatte beide Hände zu Fäusten geballt, fuchtelte aufgeregt vor ihm durch die Luft. Er war offensichtlich noch nicht am Ende seiner Mitteilungen angelangt. »Sonntag, gegen vierzehn Uhr. Ist der Groschen gefallen?«
»Demskis Auto?« Braig sprang von seinem Stuhl auf, starrte den Kollegen an.
Felsentretter nickte stumm.
»Wangbiehler«, sagte Braig, »ja?«
»Genau der«, donnerte der Kollege.
Gegen halb zwei, so hatten Demski und Markert erklärt, habe Johannes Wangbiehler an diesem Sonntag mit Demskis Ford Escort die Wohnung in Göppingen mit unbekanntem Ziel verlassen. Etwa dreißig Minuten später war das Kind, wie er gerade erfahren hatte, von genau diesem Fahrzeug erfasst worden. »Wäschenbeuren, wie weit liegt es von Göppingen entfernt?»
»Acht bis zehn Kilometer.«
»Das passt genau. Gegen dreizehn Uhr dreißig soll er sich verabschiedet haben, kurz darauf wird das Kind angefahren.« Braig überlegte. »Oder die beiden Herren haben uns belogen, weil sie selbst ein Alibi benötigten.«
»Das glaubst du doch selbst nicht«, polterte Felsentretter.
»Ein Kind wurde angefahren, schwer verletzt. Vielleicht wollen sie sich auf diese Tour aus der Verantwortung stehlen.«
»Demski und Markert? Nein!«
Braig dachte an die Männer zurück, spürte selbst, wie unwahrscheinlich seine Vermutung war
»Ich hatte den Dünnen in der Mangel, bevor du aufgetaucht bist. Ich denke, du verstehst.«
Er verstand in der Tat, konnte sich Felsentretters unorthodoxe Methoden gut vorstellen. Wie er Demski erlebt hatte, gehörte der Mann ohne Zweifel zu den Leuten, die sich von solchem Vorgehen einschüchtern ließen. In Felsentretters Hände geraten, war er sicher bereit, sein Innenleben komplett bloßzulegen. Mit rechtsstaatlichen Methoden hatte das allerdings nichts mehr zu tun. Es war Teil eines Verhaltens, das Braig verabscheute. In welcher Situation auch immer, es war nicht gerechtfertigt. Nie und nimmer. Er gab keinen Kommentar dazu ab, hörte denVorschlag des anderen.
»Wir müssen es den Kollegen mitteilen.«
Braig nickte. »Ich übernehme die Sache. Einverstanden?«
Felsentretter signalisierte seine Zustimmung, wies auf das Blatt, das er auf dem Schreibtisch abgelegt hatte. »Hier steht die Nummer der ermittelnden Kollegen.« Er winkte kurz, verließ den Raum.
Braig trank den Rest des Kaffees, säuberte die Tasse im Waschbecken, gab dann die Nummer der Göppinger Dienststelle ein. Er ließ es lange läuten, hatte endlich eine Kollegin am Apparat, die in einer völlig anderen Abteilung saß. Braig entschuldigte sich, benötigte fast zwanzig Minuten, zum zuständigen Ermittlungsbeamten durchzukommen.
Weitere Kostenlose Bücher