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Schwaben-Zorn

Titel: Schwaben-Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Wanninger
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Gräber zurück, überlegte er, würden wir ihnen anbieten, heute das Remstal besuchen zu dürfen. Die Barbarei des Lebensstils, der sich »westliche Zivilisation« schimpfte, war dabei, auch noch dem letzten Winkel seine Ursprünglichkeit zu rauben.
    Braig zog sein Handy aus der Tasche, als es läutete. Neundorf war am anderen Ende der Leitung.
    »Ich komme von Bangler«, erklärte sie.
    »Und?«
    »Das mit dem Haar war kein Problem. Er fing zwar an zu schimpfen und wies darauf hin, wie unverschämt es sei zu vermuten, ausgerechnet er … Aber dann gab er Ruhe und zupfte sich eines aus. Vor meinen Augen.«
    »Gut. Welchen Eindruck hast du von ihm?«
    Neundorf stöhnte laut auf. »Muss ich wirklich antworten?«
    »Mir scheint, ich höre Begeisterung.« Braig merkte, wie Schöffler den Kopf zur Seite wandte und ihn überrascht ansah.
    »Du weißt selbst, wie sehr ich solche Leute schätze. Menschen, die genau wissen, wo es lang geht, die von ihrer Sache hundert Prozent überzeugt sind, keine Zweifel haben. Denen ihr Glaube, ihre Überzeugung wichtiger ist als das Leben anderer.« Sie machte eine kurze Pause, sprach dann weiter. »Mir läuft Gänsehaut über den Rücken, wenn ich an sein pathetisches Geschwafel denke. ›Wir sind Kinder des Herrn. Wir halten uns an seine Gesetze, folgen seinen Geboten. Wir denken nicht wie die Kinder der Welt nur an unser Vergnügen. Die Welt ist des Satans. Egoismus und Eigennutz regieren in ihr. Wir machen da nicht mit. Der Herr verlangt, dass wir uns von der Welt abwenden und unser ganzes Leben an ihm ausrichten. Dafür ist er aber immer auf unserer Seite, wenn wir nur auf seine Worte hören.‹ Und was passiert, wenn Sie das nicht länger tun, sondern endlich richtig anfangen zu leben, fragte ich ihn. ›Nehmen Sie das Beispiel unserer ehemaligen Tochter, dann wissen Sie, was dann geschieht.‹ Das war seine Antwort.«
    »Man kann es sich wirklich einfach machen«, sagte Braig, »wir sind die Bösen, sie die Guten. Auf diese Tour ersparen sie sich jedes Nachdenken über sämtliche Probleme.«
    »Und das Schicksal seiner Tochter interessiert ihn nicht weiter.«
    »Glaubst du, er hat dem Herrn geholfen, seine Tochter ihrem verdienten Schicksal zuzuführen?«
    »Genau diese Frage habe ich ihm gestellt.«
    »Und was hat er geantwortet?«
    »Der Satan spreche aus mir.« Sie lachte, ein kurzes, sarkastisches Lachen. »Aber er bitte den Herrn um Vergebung. Auch ich könne noch gerettet werden.« Ihre Stimme wurde hart.
    »Wenn du mich fragst, ich traue ihm den Mord zu. Er traf sich mit ihr, versuchte, sie wieder auf den Weg des Herrn zu führen, merkte, dass sie nicht mitspielte, verlor die Kontrolle über sich, geriet in heiligen Zorn. Religiöser Wahn. Nicht irgendwo in fernen Ländern, sondern hier bei uns. Mitten im Schwäbischen. In Waiblingen.«

16. Kapitel
    Gegen drei Uhr an diesem Nachmittag war Lisa Neumann aufgewacht. Sie hatte laut gegähnt, den Umriss der Katze neben sich wahrgenommen, die sich leise miauend vor ihrem Gesicht aufgebaut hatte, war sich nicht ganz klar geworden, wo sie sich befand, hatte dann ihrer immer noch vorhandenen Erschöpfung nachgegeben und war wieder eingeschlafen.
    Kurz vor sechs hatte sie die Augen dann endgültig aufgeschlagen, ein dunkles, fremdes Zimmer vor sich, dazu die Konturen unbekannter Schränke und Bilder. Erst als das klagende Miauen der Katze zu ihr vordrang, fiel ihr wieder ein, wo sie sich befand.
    Sie hatte geträumt, wieder und wieder dasselbe Geschehen, den kurzen, schrecklichen Moment, als Stuttgarts Innenstadt ihr vierzig, fünfzig Meter tiefer unmittelbar zu Füßen lag und sie sich schon auf dem direkten Weg in den dunklen Abgrund vor ihr wähnte. Schwitzend und vor Angst laut schreiend hatte sie sich die ganze Nacht und den halben darauf folgenden Tag im Bett hin und her gewälzt, die Arme ruckartig von sich stoßend, nach einem Gegenstand suchend, der ihr in letzter Sekunde noch Halt bieten würde.
    Dass es geschehen war, das Wunder, dass sie den Halt gefunden und den Kerl, der ihr so übel wollte, an ihrer Stelle ins dunkle Nichts geschleudert hatte, war nicht in ihre Träume vorgedrungen, erst jetzt – zurück in der Wirklichkeit – erinnerte sie sich an jenen Moment, der ihr das Leben gerettet hatte: Unmittelbar an den Abgrund gedrängt, hatte sie sich impulsiv von den Handgriffen und Bewegungen leiten lassen, die ihr in monatelangem Training mühsam und oft schmerzhaft in Heisch und Blut übergegangen waren: Die Rechte

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