Schwaben-Zorn
Haupteingang, sah Markus Schöffler schon von weitem winken.
»Du hast Zeit?«, fragte er.
Schöffler winkte ab. »Feierabend, meinst du wohl.« Er zeigte auf seine Uhr. »Ich bin seit kurz vor sieben heute Morgen auf den Beinen. Vier Autounfälle, ein Einbruch, einmal Vandalismus. Soll ich nachrechnen, wie viele Überstunden ich allein diesen Monat schon habe?«
»Glaubst du, mir geht es anders?«
Sie liefen auf den Parkplatz, nahmen einen der Dienstwagen der Techniker. Alles war grau in grau: Die Luft, der Himmel, die Straßen. Die Dämmerung hatte längst eingesetzt, überall brannten die Lampen.
»Die Einen schaffen sich den Arsch ab, die anderen sind arbeitslos«, schimpfte Schöffler, »ist das normal?«
Braig gab keine Antwort, fühlte sich zunehmend müde und kraftlos. Er bat den Kollegen anzuhalten, sobald sie an einer Bäckerei vorbeikamen.
Der Techniker startete den Wagen, setzte zu einer neuen Tirade an. »Aber zum Glück haben wir diese über alle Maßen fähigen Politiker in Stuttgart«, schimpfte er, »wenn sich die einen schon halb zu Tode schaffen, dann sollen sie es in Zukunft richtig tun. Ab dem nächsten Jahr noch eine Pflichtstunde mehr. Damit die Arbeitslosen überhaupt keine Chance mehr auf eine Stelle haben und wir uns noch weniger um unsere Familien kümmern können.«
Braig blieb ruhig, ließ den Kollegen reden.
»Weißt du, warum ich so wütend bin?«, fragte Schöffler.
Der Kommissar drehte den Kopf zur Seite, zuckte mit der Schulter.
»Sylvia will sich scheiden lassen. Weil ich nie Zeit für sie und die Kinder hätte.«
»Sie meint es sicher nicht ernst.«
»Du bist gut. Weißt du, wie viele Stunden wir gemeinsam verbringen? Manchmal frage ich mich wirklich, ob sie nicht Recht hat. ›Eines Tages kommst du nach Hause und deine Kinder wissen nicht mal mehr deinen Namen‹, erklärte sie mir gestern. Und wahrscheinlich liegt sie damit nicht einmal so weit daneben.«
Braig wusste nicht, was er antworten sollte, gab dem Techniker insgeheim Recht. Die Spaltung der Gesellschaft in Menschen, die von ihrer Arbeit in einem kaum mehr vertretbaren Ausmaß beansprucht und anderen, denen trotz vielfältiger Bemühungen keine geregelte Arbeit zur Verfügung gestellt werden konnte, nahm in steigendem Tempo zu. Auf der einen Seite überforderte, ausgelaugte Beschäftigte, auf der anderen ins Abseits geschobene, an Minderwertigkeitsgefühlen und Depressionen leidende Arbeitslose. Und anstatt zu versuchen, diesen Prozess zu unterbinden, ihn wenigstens in den Bereichen, die sie direkt beeinflussen konnten, zu reformieren, gefielen sich die Verantwortlichen in Politik und Industrie darin, ihn weiter zu beschleunigen und somit die Gesundheit und die Lebensqualität der Bevölkerung noch mehr zu beeinträchtigen. Braig wusste nicht, woher deren Skrupellosigkeit resultierte und warum sie gerade im Schwäbischen so ausgeprägt war, fühlte sich selbst diesem Prozess mehr und mehr ausgeliefert. Der Aufwand an Kraft und Zeit, den sein Beruf verlangte, überstieg inzwischen jedes erträgliche Maß. Wo da noch Raum für ein sinnvolles Familienleben bleiben sollte, war ihm unbegreiflich. Musste man sich wirklich darüber wundern, dass so viele zwischenmenschliche Beziehungen scheiterten, so viele Familien zerbrachen?
Die Leuchtreklame eines Bäckers in einer Seitenstraße weckte Braig aus seinen Gedanken. Er bat Schöffler anzuhalten, besorgte für sich und den Kollegen Brezeln und Vollkornbrötchen.
Als sie Fellbach hinter sich gelassen hatten, nagten sie schweigend an den Backwaren. Braigs Mund war vollkommen ausgetrocknet, er ärgerte sich, dass er nichts zum Trinken besorgt hatte. Schöffler jetzt nochmals zum Anhalten aufzufordern, kostete zu viel Zeit; beide waren daran interessiert, die Wohnungsdurchsuchung in Welzheim möglichst schnell hinter sich zu bringen, außerdem hätte er gar nicht gewusst, wo er jetzt noch etwas kaufen konnte. Die Bundesstraße 29 führte als vierspurige Schnellstraße mitten durchs seit Jahrhunderten von unzähligen Dichtern besungene Remstal, das seiner anmutigen Landschaft und der fruchtigen Weine wegen als Herzstück Schwabens galt. Braig wusste aus eigener Erfahrung, dass hier seit mehreren Jahren Sommer wie Winter, Tag und Nacht allerdings nur noch eine Melodie gespielt wurde: der Lärmteppich der Bundesstraße, der das gesamte Tal bis in die höchsten Gipfel der umgebenden Berge beschallte. Die Poeten der vergangenen Jahrhunderte kehrten freiwillig in ihre
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