Schwanengesang (German Edition)
dem Weg, der nach wenigen Metern in eine staubige Schotterpiste überging. Nach weiteren fünfzig Metern bemerkte er über sich ein Haus, das von der Straße aus nicht zu sehen gewesen war. Der Ausblick war traumhaft: ein kleines Tal, ein bewaldeter Hügel mit Weinreben und die zerklüfteten, an die Dolomiten erinnernden Felsnadeln der Dentelles de Montmirail, die dahinter emporwuchsen.
Als Marc näher kam, entdeckte er eine Terrasse aus Holzplanken, in die ein etwa sechs mal sechs Meter großer, blau schimmernder Pool eingelassen war. Geschmackvolle Blumenkübel aus Terrakotta waren sorgfältig um die Terrasse herum arrangiert und schafften eine freundliche Atmosphäre. Eine Seite der Terrasse wurde von einer Bruchsteinmauer begrenzt, auf der gegenüberliegenden Seite war ein kleiner Garten mit Büschen, Blumen und einer hohen Zypresse angelegt worden. Es roch nach Glyzinien, Rosen, Iris, Rosmarin und Thymian, durch die Luft flatterten unzählige bunte Schmetterlinge. Es herrschte eine nahezu vollkommene Stille, das einzige Geräusch stammte von dem Zirpen der unsichtbaren Zikaden. Eine fast perfekte Idylle, dachte Marc.
Direkt hinter dem Pool stand eine Art Poolhaus aus Holz. Weiter oberhalb den Hang hinauf sah Marc ein Haus aus Bruchstein durch die Bäume blitzen, bei dem es sich offenbar um das Haupthaus handelte.
Marc näherte sich langsam dem Pool, zu dem einige Holzstufen führten. Jetzt sah er auch zwei Sonnenliegen, die von Bäumen beschattet vor der Bruchsteinmauer standen. Eine Liege war nicht besetzt, auf der anderen lag ein Mensch, von dem Marc jedoch nur die Rückseite eines großen Sonnenhutes sehen konnte.
Marc ging leise weiter, bis er etwa fünf Meter hinter der Liege stand. Jetzt kam es darauf an. Nun würde sich zeigen, ob er mit seiner Theorie richtig lag. Marc nahm all seinen Mut zusammen, dann sagte er laut: »Madame Thessier, sind Sie da?«
Marc sah, dass die Person auf der Liege zusammenfuhr, als sei sie von einem Blitz getroffen worden. Ein Longdrinkglas landete splitternd auf dem Boden und eine hellgelbe Flüssigkeit verteilte sich auf dem Holz. Dann drehte sich die Person langsam zu Marc um. Als sie Marc erkannte, trat ein Ausdruck maßlosen Erstaunens auf ihr Gesicht.
Marc atmete erleichtert durch. Er hatte sich nicht getäuscht. »Hallo, Frau Reichert«, sagte er und schaute sich anerkennend um. »Schön haben Sie es hier.«
49
Johanna Reichert sah wesentlich besser aus, als bei ihrer letzten Begegnung am Tag ihres angeblichen Todes. Sie trug einen Badeanzug, der viel bronzefarbene Haut freiließ. Das Haar unter dem Sonnenhut war wieder merklich gewachsen und sie hatte auch etliche Kilogramm zugenommen. Kurzum: Johanna Reichert machte einen quicklebendigen Eindruck.
Mittlerweile schien sie sich auch wieder einigermaßen gefangen zu haben. »Herr Hagen«, sagte sie. »Wie haben Sie mich gefunden?«
»Das ist eine längere Geschichte.« Marc nickte zu der Sonnenliege hin, die neben der von Johanna Reichert stand. »Darf ich mich setzen?«
Johanna Reichert machte eine einladende Handbewegung. »Bitte«, sagte sie. Sie schien sich jetzt wieder vollkommen unter Kontrolle zu haben. »Darf ich Ihnen einen Eistee anbieten?«
»Eistee wäre toll«, antwortete Marc. »Die Hitze hat mich doch ziemlich mitgenommen.«
Johanna Reichert griff nach dem Krug, der auf einem niedrigen Tisch neben ihrer Liege stand. Dann füllte sie den Eistee in zwei Gläser, von denen sie eines an Marc weiterreichte. Der trank ein paar gierige Schlucke, bevor er es sich auf seiner Liege bequem machte und die Beine hochlegte. »Ich darf doch?«, fragte er. »Es war eine lange Fahrt.«
»Fühlen Sie sich wie zu Hause«, antwortete Johanna Reichert. Sie machte eine lange Pause, in der sie Marc musterte. »Ich habe immer befürchtet, dass dieser Tag irgendwann kommt: Jemand steht vor mir und redet mich mit meinem wirklichen Namen an. Also, wie sind Sie darauf gekommen?«
»Es begann damit, dass die Polizei mir mitgeteilt hat, Gabriel Wagner habe sich nicht selbst getötet, sondern sei von einer unbekannten Person erschossen worden. Die Frage war nur: Wer konnte das sein? Es war natürlich denkbar, dass der Mörder einer der Geldeintreiber war, die Gabriel bedroht hatten, aber mir erschien es von Anfang an wahrscheinlicher, dass der Mord auch mit unserem gemeinsamen Fall zusammenhing. Gabriel muss gewusst haben, dass sein Mörder in der kleinen Küche seines Büros mit einer Pistole lauert. Offen sagen konnte er
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