Schwanengesang (German Edition)
zahlreiche Fragen notiert hatte. Dann begann eine Art Quiz, das nur den einen Zweck hatte, etwaige Zuschauer davon zu überzeugen, dass Johanna Reichert geschäftsfähig und bei klarem Verstand war. Marc fragte sie nach dem Namen der Bundeskanzlerin, verschiedener Minister, Daten aus der Geschichte und aktueller Geschehnisse sowie über ihr Leben. Johanna Reichert beantwortete alle Fragen zutreffend und ohne lange nachdenken zu müssen. Marc drängte sich unwillkürlich der Gedanke auf, dass man über ein gewisses Bildungsniveau verfügen musste, um juristisch korrekt aus dem Leben scheiden zu dürfen.
Fünfzehn Minuten später war Marc davon überzeugt, dass selbst der übellaunigste Staatsanwalt nicht mehr den geringsten Zweifel an Johanna Reicherts hervorragendem Geisteszustand haben konnte.
Nach einer kurzen Pause, die den Übergang auf ein anderes Thema andeuten sollte, fuhr er fort: »Frau Reichert, Sie sind vor einigen Tagen mit einer Bitte an mich herangetreten.« Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber Marc hatte mit Heinen verabredet, ihn völlig aus der Sache herauszulassen, um jeden Ärger mit der Ärztekammer zu vermeiden.
»Vor drei Tagen haben wir uns das erste Mal persönlich getroffen«, sprach Marc weiter. »Würden Sie bitte wiederholen, was Sie mir damals erzählt haben.«
Johanna Reichert nickte ernst und schilderte Marc ihr Martyrium. Sie erzählte von dem unheilbaren Magenkrebs, der bei ihr diagnostiziert worden war, den damit einhergehenden unerträglichen Schmerzen und ihrem einzigen Wunsch, endlich sterben zu dürfen.
Marc ließ sie reden, ohne ein einziges Mal zu unterbrechen.
Dann fragte er: »Mittlerweile sind seit diesem Gespräch etwa zweiundsiebzig Stunden vergangen und Sie hatten Zeit, sich alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Hat sich an Ihrer Entscheidung irgendetwas geändert?«
Johanna Reichert schüttelte den Kopf und sah direkt in die Kamera. »Nein«, sagte sie bestimmt.
»Es ist also immer noch Ihr Wunsch, selbst aus dem Leben zu scheiden?«
»Jawohl, das ist mein Wunsch«, bekräftigte sie.
Marc holte den Becher, den er gestern von dem Kurier bekommen hatte, aus seiner Aktentasche und stellte ihn vorsichtig auf den Nachttisch.
»Frau Reichert«, fuhr Marc anschließend fort. »In diesem Becher befindet sich eine Mischung verschiedenster Medikamente. Dieser Cocktail wirkt zuerst als Schlafmittel, dann wird er Ihre Atmung lähmen und schließlich zum Herzversagen führen. Das heißt, Sie werden innerhalb weniger Minuten sterben, nachdem Sie diesen Becher ausgetrunken haben. Ist Ihnen das bewusst?«
»Das ist mir bewusst und mein Wille.«
Marc warf einen letzten Blick auf sein Klemmbrett und überprüfte auf seiner Checkliste, dass er nichts vergessen hatte. Dann verstaute er es in seiner Aktentasche und sah der Frau fest in die Augen. »Frau Reichert, ich werde mich jetzt von Ihnen verabschieden«, sagte er. Er spürte, wie seine Augen feucht wurden und musste schwer schlucken, bevor er weiterreden konnte. »Ich wünsche Ihnen alles, alles Gute.«
Johanna Reichert ergriff seine Hand mit beiden Händen und umklammerte sie. Auch sie hatte Tränen in den Augen. »Vielen Dank«, sagte sie. »Vielen Dank für alles.«
Marc erhob sich. Dann verließ er das Zimmer, ohne noch einmal einen Blick zurückzuwerfen.
11
Marc stieg in seinen Golf und gab so viel Gas, dass die Räder durchdrehten, hinter ihm der Kies aufspritzte und gegen die Hauswand prasselte. Dann schob er eine Heavy-Metal-CD ein und drehte die Lautstärke voll auf, um alle Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen.
Nach einer Viertelstunde erreichte er den Landgasthof, den er sich vorher ausgeguckt hatte, und setzte sich in die Nähe der Theke. Um diese Uhrzeit war er der einzige Gast. Da Marc jetzt beim besten Willen nichts essen konnte, bestellte er nur eine Tasse Kaffee. Er hatte mehrere Zeitungen mitgenommen, war aber unfähig, auch nur eine Zeile zu lesen.
Also saß Marc einfach nur da und starrte vor sich hin. Er wusste, dass Heinen Yvonne angewiesen hatte, nach Marcs Abfahrt mindestens eine Stunde zu warten, bis sie bei Johanna Reichert nach dem Rechten sah. Er hatte also mehr als genug Zeit.
Um Punkt 11.57 Uhr fuhr Marc vom Klingeln seines Handys zusammen. Mit seinem zitternden Zeigefinger drückte er die grüne Taste. Er hielt das Gerät ans Ohr und hörte Heinens Stimme.
»Sie ist erlöst.« Dann war die Leitung tot.
Marc atmete mehrmals tief durch, zahlte und fuhr zurück
Weitere Kostenlose Bücher