Schwanengesang (German Edition)
jemand anderen suchen!«
»Nein, nein, kein Problem«, versicherte Heinen schnell. »Wann können wir die Aktion durchführen?«
»Ich denke, wir sollten noch etwas warten. Ich will ganz sicher sein, dass Frau Reichert die Gelegenheit hatte, ihren Entschluss noch einmal in Ruhe zu überdenken. Außerdem kommt der Giftcocktail erst morgen an und Sie müssen die Videokamera noch besorgen.«
»Aber wir dürfen nicht zu lange zögern. Jeder Tag ist eine einzige Qual für sie. Es kommt wirklich auf jede Stunde an. Ich bin mir auch hundertprozentig sicher, dass Johanna sich nicht mehr anders entscheiden wird. Sie redet seit Wochen von nichts anderem.«
»Gut.« Marc sah in seinem Terminkalender nach. »Wie wäre es mit Mittwoch?«
»Also übermorgen?«, vergewisserte sich Heinen und zog einen kleinen Lederkalender aus der Tasche. »Das kann ich einrichten. Und bis dahin werde ich auch die Videoausrüstung haben.« Er stand auf und gab Marc die Hand. »Also dann bis Mittwoch. Wenn es noch irgendwelche Probleme gibt, telefonieren wir.«
An der Tür wandte sich der Arzt zu Marc um. »Und noch einmal: vielen Dank. Ich bin mir sicher, dass Ihnen diese Tat eines Tages vergolten werden wird.«
9
Marc blickte ungeduldig auf die Uhr. Es war halb zwölf durch. Der Kurier aus den Niederlanden hatte sich für die Zeit zwischen zehn und zwölf Uhr angemeldet. Langsam wurde es knapp. Marc hatte seine heikle Lieferung wohlweislich in die Kanzlei bestellt. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn der Bote mit der tödlichen Fracht bei ihm zu Hause geklingelt hätte und Lizzy den Giftcocktail womöglich in die Finger bekommen hätte.
Um sich die Zeit zu vertreiben, hatte Marc den Laptop hochgefahren und ein wenig Internetrecherche über die Frau betrieben, die er morgen töten würde. Denn nichts anderes war er im Begriff zu tun, egal, wie man es juristisch nannte.
Da Johanna Reicherts Mann zu den oberen Zehntausend der Gesellschaft gehört hatte, fand sich eine Fülle an Informationen im World Wide Web. Eberhard Reichert hatte zu den wenigen Glücklichen seines Geburtsjahrganges 1922 gehört, die den Zweiten Weltkrieg überlebt hatten. Unmittelbar nach dem Krieg hatte er in einem Bretterschuppen ein Unternehmen gegründet, das sich mit dem Bau und dem Vertrieb von Schreibmaschinen befasste. Reichert hatte zwar nicht die gleiche Karriere wie ein Grundig oder Neckermann gemacht, war jedoch mit seinen Typenhebel-Schreibmaschinen in der Zeit des Wirtschaftswunders sehr erfolgreich gewesen. Anfang der Achtzigerjahre hatte er seine spätere Frau Johanna Rottmann kennengelernt, die als Schauspielerin am Bielefelder Stadttheater arbeitete. Reichert hatte sie in einer Vorstellung gesehen und sich sofort in sie verliebt. Jeden Tag hatte er einen Strauß roter Baccara-Rosen in ihre Garderobe schicken lassen und damit irgendwann ihr Herz erobert. 1982, Johanna Rottmann war gerade zweiunddreißig Jahre alt geworden, wurde mit allem Pomp geheiratet. Allerdings leiteten die Achtzigerjahre nicht nur den Beginn von Reicherts privatem Glück, sondern auch den Niedergang seines Unternehmens ein. Proportional zum Aufkommen der ersten Personal Computer sank der Bedarf an Schreibmaschinen. Reichert versuchte zwar, dem unaufhaltsamen Aufstieg der PCs noch einige Jahre entgegenzuwirken, indem er sich auf elektrische Schreibmaschinen spezialisierte, aber irgendwann musste er einsehen, dass der Zug der Zeit ihn ein- und überholt hatte. Doch er hatte tatsächlich ein letztes Mal Glück: 1991 fand Reichert einen Dummen, der wohl hauptsächlich an dem traditionsreichen Namen Reichert Schreibmaschinen interessiert war und dem Firmengründer sage und schreibe dreißig Millionen Mark für sein bereits marodes Unternehmen zahlte. Gerade ein halbes Jahr nach dem Verkauf seiner Firma verstarb Reichert an einem Herzinfarkt. Immerhin blieb es ihm so erspart, die endgültige Pleite seines ehemaligen Unternehmens zwei Jahre später miterleben zu müssen.
Da aus der Ehe keine Kinder hervorgegangen waren, erbte Johanna Reichert alles. Die nächsten Jahre genoss sie ein sorgenfreies Leben mit den Millionen ihres Mannes. Marc fand mehrere Zeitungsartikel, die über ihre Anwesenheit auf zahlreichen Wirtschaftsbällen und Wohltätigkeitsveranstaltungen in ganz Ostwestfalen-Lippe berichteten. Zumindest bis vor zwei Jahren. Da endete die Medienpräsenz der Millionärin, die es zu dem Zeitpunkt offenbar vorgezogen hatte, sich ganz aus der Öffentlichkeit
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